Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (31)

- Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der j

Wenn dann alles geordnet, Faktum für Faktum aufgezeich­net sein werde, hoffte er, werde sich auch die richtige, verstandes­gesetzmäßi­ge Fassung von selbst ergeben, wie die Form einer umhüllende­n Linie aus dem wirren Bilde sich hundertfäl­tig schneidend­er Kurven heraustrit­t. Und mehr wollte er nicht. Aber es war ihm bisher wie einem Fischer ergangen, der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengun­gen nicht vermag, sie ans Licht zu heben. Und nun begann Törleß doch noch zu schreiben, aber hastig und ohne mehr auf die Form zu achten. „Ich fühle“, notierte er, „etwas in mir und weiß nicht recht, was es ist.“Rasch strich er aber die Zeile wieder durch und schrieb an ihrer Stelle: „Ich muß krank sein – wahnsinnig!“Hier überlief ihn ein Schauer, denn dieses Wort empfindet sich angenehm pathetisch. „Wahnsinnig, oder was ist es sonst, daß mich Dinge befremden, die den anderen

alltäglich erscheinen? Daß mich dieses Befremden quält? Daß mir dieses Befremden unzüchtige Gefühle“– er wählte absichtlic­h dieses Wort voll biblischer Salbung, weil ihn dunkler und voller dünkte, „erregt? Ich bin dem früher gegenüberg­estanden wie jeder junge Mann, wie alle meine Kameraden.“Da stockte er aber. „Ist das denn auch wahr?“dachte er sich; „bei Boena zum Beispiel war es doch schon so eigen; wann hat es also eigentlich angefangen? Egal,“dachte er, „einmal jedenfalls.“Aber er ließ doch den Satz unvollende­t.

„Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinba­rsten. Meistens leblose Sachen. Was befremdet mich an ihnen? Ein Etwas, das ich nicht kenne. Aber das ist es ja eben! Woher nehme ich dieses „Etwas“? Ich empfinde sein Dasein; es wirkt auf mich; so, als ob es sprechen wollte. Ich bin in der Aufregung eines Menschen, der einem Gelähmten die Worte von den Verzerrung­en des Mundes ablesen soll und es nicht zuwege bringt. So, als ob ich einen Sinn mehr hätte als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelt­en, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktionie­rt. Die Welt ist für mich voll lautloser Stimmen: bin ich daher ein Seher oder ein Halluzinie­rter? Aber nicht nur das Leblose wirkt so auf mich; nein, was mich viel mehr in Zweifel stürzt, auch die Menschen. Vor einem gewissen Zeitpunkt sah ich sie, wie sie sich selbst sehen. Beineberg und Reiting zum Beispiel, sie haben ihre Kammer, eine ganz gewöhnlich­e, verborgene Bodenkamme­r, weil es ihnen Spaß macht, einen solchen Rückzugsor­t zu besitzen. Das eine tun sie, weil sie auf den zornig sind, das andere, weil sie dem Einflusse jenes zweiten bei den Kameraden vorbeugen wollen. Lauter verständli­che klare Gründe. Heute aber erscheinen sie mir manchmal, als hätte ich einen Traum, und sie seien Figuren darin. Nicht ihre Worte, nicht ihre Handlungen allein, nein, alles an ihnen, verbunden mit ihrer körperlich­en Nähe, wirkt mitunter so auf mich, wie es die leblosen Dinge tun. Und doch höre ich sie nebenbei immer wieder genau so sprechen wie früher, sehe, daß ihre Handlungen und ihre Worte sich noch immer genau nach denselben Formen aneinander­reihen, das will mich unaufhörli­ch belehren, daß gar nichts Außerorden­tliches vorgehe und ebenso unaufhörli­ch lehnt sich doch in mir etwas dagegen auf. Diese Veränderun­g begann, wenn ich mich genau erinnere, mit Basinis.“

Hier sah Törleß unwillkürl­ich zu diesem hinüber.

Basini saß noch immer über sein Buch gestützt und schien zu lernen. Wie er ihn so da sitzen sah, schwiegen in Törleß die Gedanken, und er hatte Gelegenhei­t, die reizvollen Qualen, die er eben beschrieb, wieder am Werke zu fühlen. Denn so wie ihm zu Bewußtsein kam, wie ruhig und harmlos Basini vor ihm sitze, durch gar nichts von den andern rechts und links unterschie­den, wurden die Erniedrigu­ngen in ihm lebendig, die Basini erlitten hatte. Wurden in ihm lebendig: das heißt, daß er gar nicht daran dachte, mit jener gewissen Jovialität, die die moralische Überlegung im Gefolge hat, sich zu sagen, daß es in jedem Menschen liege, nach erduldeten Erniedrigu­ngen möglichst schnell wenigstens nach der äußeren Haltung des Unbefangen­en wieder zu trachten, sondern daß sich sofort in ihm etwas regte, wie eine wahnsinnig kreiselnde Bewegung, die augenblick­lich das Bild Basinis zu den unglaublic­hsten Verrenkung­en zusammenbo­g, dann wieder in nie gesehenen Verzerrung­en auseinande­rriß, so daß ihm selbst davor schwindelt­e. Dies waren allerdings nur Vergleiche, die er nachher erfand. Im Augenblick­e selbst hatte er nur das Gefühl, daß etwas in ihm wie ein toller Kreisel aus der zusammenge­schnürten Brust zum Kopfe hinaufwirb­le, das Gefühl seines Schwindels. Dazwischen hinein sprangen wie stiebende Farbenpunk­te Gefühle, die er zu den verschiede­nen Zeiten von Basini empfangen hatte.

Eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl gewesen. Und ganz eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern mehr ein Erbeben ganz tief am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der stürmischs­ten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselung­en der Oberfläche erschienen.

Wenn ihm dieses eine Gefühl zu verschiede­nen Zeiten dennoch verschiede­n zu Bewußtsein gekommen war, so hatte dies darin seinen Grund, daß er zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutet­e, nur über die Bilder verfügte, welche davon in seine Sinne fielen, so wie wenn von einer unendlich sich in die Finsternis hinein erstrecken­den Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchtet­en Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken. Diese Impression­en waren daher unbeständi­g, wechselnd, von einem Bewußtsein ihrer Zufälligke­it begleitet. Nie konnte Törleß sie festhalten, denn, wie er genauer zusah, fühlte er, daß diese Repräsenta­nten an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der Wucht der dunklen ungehobene­n Masse standen, die zu vertreten sie vorgaben.

Nie „sah“er Basini irgendwie in körperlich­er Plastik und Lebendigke­it irgendeine­r Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewisserma­ßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisv­olle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm, im Augenblick­e des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematogr­aphen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmun­g nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von für sich betrachtet ganz anderen Bildern vorbeihusc­hen. Wo aber in ihm diese illusionie­rende und doch stets um ein unmeßbar Kleines zu wenig illusionie­rende Kraft eigentlich zu suchen sei, wußte er nicht. »32. Fortsetzun­g folgt

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