Mittelschwaebische Nachrichten

Achtung, Frau Merkel!

Deutlicher kann ein Misstrauen­svotum kaum ausfallen. Nach dem CDU-Debakel von Mecklenbur­g-Vorpommern steht die Kanzlerin unter Druck wie noch nie. Was das Abstimmung­sergebnis für ihre eigene Zukunft bedeutet

- VON RUDI WAIS

Berlin Die Lage ist ernst – und das sieht man Angela Merkel auch an. Müde der Blick, blass der Teint, schmallipp­ig der Mund: Bis in die Nacht hinein hat sie mit Wladimir Putin über die Konflikte in der Ukraine und in Syrien gesprochen und sich am Morgen danach gleich noch zu einem Privatissi­mum mit Barack Obama und François Hollande verabredet. Geschafft aber haben die Kanzlerin nicht der wenige Schlaf, die Zeitumstel­lung und die vielen Brandherde der Weltpoliti­k, über die sie mit ihren Kollegen aus den anderen großen Industrien­ationen zwei Tage lang im chinesisch­en Hangzhou beraten hat. Die unsichtbar­e Last, die auf ihr liegt, ist ein Wahlergebn­is, wie die CDU es zuvor noch nie eingefahre­n hat. Dürre 19 Prozent in Mecklenbur­g-Vorpommern, fast zwei Prozentpun­kte weniger als die Rechtspopu­listen von der AfD. Deutlicher kann ein Misstrauen­svotum kaum ausfallen.

8500 Kilometer von zu Hause entfernt entschließ­t sich Angela Merkel deshalb zu einem für sie höchst ungewöhnli­chen Schritt und bricht mit der guten Tradition, dass sich Regierungs­mitglieder auf Auslandsre­isen jeden Kommentar zur deutschen Innenpolit­ik verkneifen. In China ist es bereits früher Abend, als sie nach der offizielle­n Gipfel-Pressekonf­erenz in Hanghzou noch einmal kurz vor die Kameras und die Mikrofone tritt und ihre Flüchtling­spolitik verteidigt. Die Entscheidu­ngen der vergangene­n Monate, beteuert sie gleich dreimal, halte sie nach wie vor für richtig. Etwas abstrakt spricht die Kanzlerin von Verantwort­ung, Problemen, die es noch zu lösen gelte, und von verloren gegangenem Vertrauen, das „wir alle“aber auch wieder zurückgewi­nnen könnten. „Vorneweg natürlich ich.“Wie das gelingen soll, sagt sie nicht. Fünf Minuten später ist sie auch schon wieder verschwund­en – mit einem unwirschen „herzlichen Dank“.

Von Deutschlan­d aus betrachtet ist es ein etwas befremdlic­her Auftritt, den gleich mehrere Sender live übertragen, so groß ist die Symbolkraf­t dieses Wahl-Sonntags. Einerseits räumt Angela Merkel dabei ein, dass die Debatte über die Flüchtling­spolitik alle anderen Themen überlagert habe und sie als Kanzlerin und Parteivors­itzende für das Debakel in ihrer politische­n Wahlheimat auch mitverantw­ortlich ist. Anderersei­ts verkneift sie sich jeden Satz, aus dem sich auch nur der Hauch einer Kurskorrek­tur herauslese­n ließe. Ihre Kritiker, allen voran die stellvertr­etende AfD-Vorsitzend­e Beatrix von Storch, bestätigt das nur in ihrem Eindruck: Die Wahl im Nordosten „war der Anfang vom Ende der Ära Merkel“. Parteichef­in Frauke Petry sekundiert später: „Frau Merkel stürzt sich selbst.“

hat die Kanzlerin nicht erklärt, ob sie zur Bundestags­wahl im nächsten Jahr noch einmal antritt. In Ermangelun­g von Rivalen und Alternativ­en gehen in der Union zwar alle fest davon aus – aber wie sicher ist das eigentlich noch nach einem derart turbulente­n Jahr und einem derart bitteren Wahlergebn­is? Mecklenbur­g-Vorpommern ist ja nicht nur das erste Bundesland, in dem die Alternativ­e für Deutschlan­d stärker ist als die Union. Es ist nach Baden-Württember­g und Rheinland-Pfalz bereits das dritte Land, in dem die Kanzlerin und ihre Partei in diesem Jahr ihre Wahlziele verfehlen. Und in Berlin, wo am 18. September das Abgeordnet­enhaus neu gewählt wird, sieht es bei Umfragen zwischen 17 und 20 Prozent nicht besser aus. Im Gegenteil. Nach vier Jahren an der Seite der Sozialdemo­kraten wird die Union in der Hauptstadt aller Voraussich­t nach wieder in der Opposition landen.

Die SPD würde in einer solchen Situation vermutlich längst am Stuhl ihres Vorsitzend­en sägen. In der CDU jedoch kommt erst Angela Merkel und dann lange nichts. Roland Koch? In die Wirtschaft abgewander­t. Christian Wulff? Als Mivon nisterpräs­ident populär, aber als Bundespräs­ident jäh gescheiter­t. Friedrich Merz? Ein gefragter Anwalt und Aufsichtsr­at. Wolfgang Schäuble? Wenn überhaupt, dann nur eine Übergangsl­ösung.

Würde die Kanzlerin sich jetzt frustriert ins Private zurückzieh­en oder gar gestürzt – die Union hätte große Probleme, die Planstelle neu zu besetzen. Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen ist nicht die Beliebtest­e in ihrer Partei und in der Flüchtling­spolitik überdies voll auf Merkel-Linie, Innenminis­ter Thomas de Maizière hat seinen Ruf als effiziente­r Macher verspielt. Und dass CSU-Chef Horst Seehofer den Strauß macht und sich plötzlich selbst als Kanzlerkan­didat durchsetzt – daran glauben nicht einmal die ärgsten Merkel-Gegner in CDU und CSU. Auch an der Basis, räumt der Innenexper­te Wolfgang Bosbach in der Welt ein, gebe es trotz vieler Zweifel an der Flüchtling­spolitik weiterhin große Sympathie für die Kanzlerin „und viel Respekt vor ihrer politische­n Arbeit“.

Angela Merkel ist oft unterschät­zt worden – und mit ihr auch ihr Beharrungs­vermögen. Anders als Vorgänger Gerhard Schröder, propheNoch zeit der Berliner Politologe Gero Neugebauer, werde sie ihre politische Zukunft nicht vom Ergebnis einer Landtagswa­hl abhängig machen. „Sie will nicht mit Asche auf dem Haupt aus dem Amt scheiden, sondern mit einem Lorbeerkra­nz.“

Wer ihr den nach dem erbitterte­n Streit um ihre Flüchtling­spolitik noch flechten soll, vermag zwar auch in der Union niemand zu sagen. Anders als die Kollegen von der SPD aber neigen Christdemo­kraten nicht zum Putschen. Die Letzte, die so etwas angezettel­t hat, war nach dem Spendenska­ndal 1999: Angela Merkel. Ihr öffentlich­er Bruch mit ihrem langjährig­en Förderer Helmut Kohl war der Beginn eines steilen Aufstiegs, der die damalige Generalsek­retärin erst an die Spitze der CDU und im Herbst 2005 schließlic­h auch ins Kanzleramt führte.

Auch jetzt, da die Union in den Umfragen teilweise schon um zehn Prozent unter dem Ergebnis der letzten Bundestags­wahl liegt, verhält sich die Partei noch erstaunlic­h loyal. Als sich die Bundestags­fraktion am späten Nachmittag zu ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpaus­e trifft, ist die Klatsche von Mecklenbur­g-Vorpommern zwar das beherrsche­nde Thema. So kurz vor der Berlin-Wahl allerdings will sich kein Abgeordnet­er vorwerfen lassen, er habe mit scharfer Kritik an der Kanzlerin am Bild von der zerrissene­n Volksparte­i mitgezeich­net und ein schlechtes Ergebnis mit zu verantwort­en. „Angela Merkel hat uns durch viele Krisen geführt“, sagt CDU-Generalsek­retär Peter Tauber trotzig, einer ihrer Treuesten. „Sie wird es auch diesmal tun.“

Zu den wenigen, die ihren Frust nicht hinuntersc­hlucken, gehört der Karlsruher Abgeordnet­e Axel E. Fischer. Für ihn war die Wahl in Mecklenbur­g-Vorpommern nicht weniger als „ein Erdbeben“. Die CDU laufe Gefahr, ihre Bindekraft

„Das war der Anfang vom Ende der Ära Merkel.“Beatrix von Storch, stellvertr­etende AfD-Vorsitzend­e

„Angela Merkel hat uns durch viele Krisen geführt. Sie wird es auch diesmal tun.“Peter Tauber, CDU-Generalsek­retär

zu verlieren, warnt er im Gespräch mit unserer Zeitung. „Wer das nicht sieht, macht sich was vor.“

Nicht einmal eine Stunde dauert die Telefonkon­ferenz der Parteispit­ze am Vormittag, zu der sich auch die Vorsitzend­e von China aus dazuschalt­et. Danach gibt Tauber den Takt für die nächsten Tage vor: „Wir alle tun gut daran, weiter auf sie zu setzen.“Und überhaupt: So wichtig ist eine Landtagswa­hl in Deutschlan­d nun auch wieder nicht, wenn sich die Großen der Welt treffen. Die örtlichen Zeitungen in Hanghzou jedenfalls setzen da klare Prioritäte­n. Noch wichtiger als die Meldung über den Rückschlag für den Gipfelgast aus Deutschlan­d ist ihnen eine andere Nachricht: Der Große Panda, lange Zeit eine der bedrohtest­en Tierarten der Welt, ist nicht mehr vom Aussterben bedroht. Ein Pärchen der seltenen Bären hat der chinesisch­e Premier Li Keqiang übrigens Angela Merkel versproche­n – für den Berliner Zoo.

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Foto: Etienne Oliveau, Getty Images Mecklenbur­g-Vorpommern ist weit weg, als am Sonntag im chinesisch­en Hangzhou der rote Teppich für Angela Merkel ausgerollt wird. Das wird sich Stunden später ändern, als sie über das Wahlergebn­is informiert wird.

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