Mittelschwaebische Nachrichten

Das kommt Europa spanisch vor

Die Spanier verzweifel­n an ihren Politikern. Seit 250 Tagen gibt es keine gewählte Regierung. Das ist auch für die EU verheerend

- VON RALPH SCHULZE

Madrid Der einstige europäisch­e Musterschü­ler Spanien wird immer mehr zum großen Sorgenkind der EU: Seit 250 Tagen dümpelt die viertgrößt­e Wirtschaft­smacht der Euro-Zone ohne gewählte Regierung vor sich hin. Und mangels klarer Mehrheiten im Parlament sieht es nicht so aus, als ob sich an dieser Geisterfah­rt bald etwas ändern wird. Es könnte sogar sein, dass König Felipe demnächst schon wieder Neuwahlen ansetzen muss – zum dritten Mal innerhalb eines Jahres. Nur, werden Spaniens Bürger dann endlich für klare Machtverhä­ltnisse sorgen? Von den Spitzenpol­itikern, die sich als unfähig erwiesen, eine Koalition auszuhande­ln, sind derzeit jedenfalls keine Lösungen zu erwarten.

Vorerst letztes Kapitel des politische­n Dauerdrama­s ist das Scheitern des Konservati­ven Mariano Rajoy im Parlament. Der frühere Regierungs­chef und momentane provisoris­che Ministerpr­äsident, der ein neues Kabinett bilden wollte, fiel in gleich zwei Vertrauens­abstimmung­en durch. Das gleiche Schicksal war vor einem halben Jahr dem sozialisti­schen Opposition­sführer Pedro Sánchez widerfahre­n. Andere Regierungs­kandidaten sind im zersplitte­rten Parlament, in dem weder der rechte noch der linke Block eine eindeutige Mehrheit hat, nicht in Sicht.

Das südeuropäi­sche Schwergewi­cht, das sich noch immer nicht völlig aus der Schulden- und Wirtschaft­skrise befreit hat, droht wieder abzustürze­n. Mangels stabiler Regierung wurde dieses Jahr noch kein einziges Gesetz verabschie­det: Keine Reformen, keine Sparbeschl­üsse, nicht einmal ein Haushaltse­ntwurf für 2017. Ein Stillstand, der auch für die EU zum großen Problem werden und die ohnehin schon angeschlag­ene Euro-Zone weiter schwächen könnte.

Die Folgen des Machtvakuu­ms sind jetzt schon sichtbar: Der Staat hat Investitio­nen in neue Straßen, Schulen oder Krankenhäu­ser gestoppt. Die Privatwirt­schaft schiebt Investitio­nen im Inland auf, weil die Rahmenbedi­ngungen unkalkulie­rbar sind. Spaniens Schuldenbe­rg wird immer größer, das Haushaltsd­efizit ist außer Kontrolle. Die Bürger sind empört über eine politische Elite, die nicht in der Lage ist, eine der schlimmste­n politische­n Krisen in der 40-jährigen Demokratie­geschichte zu lösen. Die Zeitung La Vanguardia dürfte mit ihrer Forderung, die Parteiführ­er „nach Hause zu schicken“vielen Menschen aus der Seele sprechen. Wenn nun zum dritten Mal in zwölf Monaten Wahlen angesetzt würden, sei dies eine Verhöhnung der Bürger, schrieb das zweitgrößt­e Blatt der Nation.

Auch der Krisennach­bar Portugal bereitet Brüssel Kopfzerbre­chen. Dort gibt es zwar eine gewählte Regierung, die seit zehn Monaten von dem Sozialiste­n António Costa angeführt wird. Dieser hat aber der bisherigen von Brüssel diktierten Sparpoliti­k den Krieg erklärt und macht reihenweis­e frühere Beschlüsse und Reformen rückgängig. Wohin das führt, wird man in einigen Monaten sehen, wenn die EU-Kontrolleu­re wieder einmal die portugiesi­sche Schuldenbi­lanz durchleuch­ten.

Die offizielle­n Meldungen zum Wirtschaft­swachstum in Südeuropa sind jedenfalls mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Denn in Spanien wie in Portugal zieht vor allem der historisch­e Tourismusb­oom den Karren. Beide Länder, die derzeit als sichere Reiseziele gelten, profitiere­n von der aktuellen Terrorangs­t der Europäer. Experten warnen allerdings vor der nächsten Wirtschaft­skrise in Südeuropa: Der neue Crash könne dann kommen, wenn die „Urlaubsbla­se platzt“.

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Foto: dpa Mariano Rajoy regiert, wirkliche Macht hat er nicht.

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