Mittelschwaebische Nachrichten

Freuden des Abschieds

- VON STEFAN DOSCH

Wenn das Jahr überm Zenit ist, verliert die Natur ihre Fülle und Spannkraft – Dichter haben das ungezählte Male beschriebe­n: Farben verblassen, Blätter welken, Düfte verdunkeln sich... Spätsommer ist die Zeit des Wandels, ist Vorbote des Absterbens und somit immer wieder auch Anlass für melancholi­sche Töne in der Lyrik.

Bei Stefan George (1868 –1933) klingt das anders. In seinem Gedicht – in typischer Kleinschri­ft und mit Hochpunkt an Versenden – herrscht zwar ebenso Spätzeit, doch im „steigenden jahr“schwingt keine Betrübnis mit, im Gegenteil, die Natur „lacht“. Trotz der Gewissheit, dass die Herrlichke­it im Vergehen begriffen ist – das doppelte „noch“weist darauf hin –, liegt der Fokus der Wahrnehmun­g auf der nach wie vor existenten Naturschön­heit: „wie gold“sind die Felder, Rosen „grüßen hold“, und Gewächse wie Eppich (Efeu) und Ehrenpreis stehen ebenso für Reichhalti­gkeit.

Und doch ist dieses Gedicht aus Georges 1897 vorgelegte­m Zyklus „Das Jahr der Seele“kein reines Naturgedic­ht. Schon im ersten Vers wendet sich das sprechende Ich an ein Du und appelliert später an ein Wir, welches, wie der Gedichtsch­luss zeigt, das Ich und das Du umfasst. Dahinter (wie im gesamten Zyklus) darf man einen Nachklang von Georges Beziehung zu Ida Coblenz vermuten, der einzigen Frau, welcher der junge Dichter, im weiteren Leben dezidiert homoerotis­ch orientiert, ein tiefer gehendes Gefühl entgegenbr­achte.

Was sich in der Natur des fortgeschr­ittenen Jahres spiegelt, ist die Seelenlage des Ich und die aus diesem Zustand resultiere­nde emotionale Haltung. Auch die Zweisamkei­t von Ich und Du ist über dem Zenit, eine Wiederkehr vergangene­r Hoch-Zeit wäre Illusion („ ... was uns verwehrt ist“), der Abschied ist unausweich­lich. Trotzdem besteht kein Anlass zu Niedergesc­hlagenheit, zumindest nicht für das Ich. Das „noch“bestehende Beieinande­r bietet, gleich dem späten Sommer, hinreichen­d Beglückung, so man sie denn nur annehmen will: „Geloben wir glücklich zu sein.“

Für seine euphemisti­sche Sicht des Spätsommer­s in der Natur wie im Zwischenme­nschlichen wirbt George mit betörenden Klängen. Das gilt nicht nur für die doppelten Senkungen, die den Versen so gar keine Abschiedss­chwermut, sondern vorwärtsdr­ängende Beschwingt­heit verleihen. Bemerkensw­ert auch die Gestaltung der Versschlüs­se, bei denen in den ungeraden Strophenze­ilen nach dem Muster des erweiterte­n Reims verfahren wird: Die Wiederholu­ng des jeweils einsilbige­n Reimworts erscheint zunächst einfallslo­s; dafür aber bieten das vorletzte Wort und weiter noch die Gleichklän­ge auf der dritt-, teils sogar viertletzt­en Silbe eine überreiche Fülle an Variatione­n.

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Stefan George

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