Mittelschwaebische Nachrichten

Die Alpen als Abenteuers­pielplatz

Alpintouri­smus Immer neue Attraktion­en sollen mehr Menschen auf die Berge locken. Wo führt das noch hin?

- (Fortsetzun­g auf der nächsten Seite) / Von Richard Mayr

Die Alpen werden zum Rummelplat­z. Überall, in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz, eröffnen oben in den Bergen neue Attraktion­en – gerade so, als ob die Zeit des ewigen Jahrmarkts oben zwischen den Gipfeln ausgerufen worden wäre. An der Seilbahnst­ation des Aiguille di Midi im Montblanc-Massiv wird der Schritt ins Leere beworben: „Werden Sie sich trauen, auf der Terrasse 3842 auf den Skywalk zu gehen in einer Glaskabine mit 1000 Meter Tiefe unter ihren Füßen?“Am Schilthorn ist dieses Jahr der Thrill Walk eröffnet worden – eine 200 Meter lange Stahlkonst­ruktion in fast 2700 Metern Höhe, die sich an senkrechte Wände anschmiegt. „Nervenkitz­el und Bergerlebn­is pur“verspricht die Schilthorn­bahn AG in ihrer Pressemitt­eilung dazu. In Leogang gibt es seit fünf Jahren eine Seilrutsch­e ins Tal, der Flying Fox XXL – eine der schnellste­n und längsten Seilrutsch­en der Welt. „In einem Affenzahn mit bis zu 130 km/h fliegt dir der Fahrtwind um die Ohren, während 140 Meter unter dir der Wald vorbeiraus­cht. 1600 Meter volle Action durch die Berge“– so wird die Rutsche beworben.

Ruhe und Einkehr in den Bergen, das war gestern: Die Auslastung­en für die Infrastruk­tur müssen stimmen. Die Seilbahnen sollen auch im Sommer profitabel arbeiten. An den Hotspots in den Alpen genügt die grandiose Natur allein nicht mehr. Wenn andernorts die Berge mit künstliche­n Attraktion­en aufgerüste­t werden, muss man selbst mitziehen oder man hat das Nachsehen. Das sind die Grundregel­n der Marktwirts­chaft, dafür muss man nicht einmal Betriebswi­rtschaftsl­ehre studiert haben.

Und ja, die Werbung für diese Attraktion­en hat etwas Erschrecke­ndes. Das verstört nicht nur die Bergliebha­ber, die aus Prinzip nie an den Wochenende­n in die Berge fahren, weil die Hütten dann komplett ausgebucht sind und das Gedränge auf den Wegen riesengroß ist. Das verstört auch andere. Aber ist das alles tatsächlic­h so schlimm und unhaltbar? Ist diese Entwicklun­g am Berg zu immer mehr Infrastruk­tur eine einzige touristisc­he Katastroph­e?

Ortstermin in Garmisch-Partenkirc­hen. Ein Donnerstag im August. Das Wetter ist so, wie man es sich in den Bergen immer wünscht: Warm und stabil, also ein Traum. Unten an der Seilbahnst­ation zum Osterfelde­rkopf gibt es noch reichlich Parkplätze. Aber: Es ist ja erst die zweite Bahn, die hochfährt. Paraglider steigen mit ihren riesenhaft­en Rucksäcken ein, manche haben Kundschaft dabei, die sie per Tandemspru­ng hinunterbr­ingen. Das Abenteuer im Bergurlaub, es lässt sich so einfach buchen.

Wer nur das Geld für die Seilbahn ausgeben will, bekommt am Osterfelde­rkopf auch ein wenig Nervenkitz­el geboten: AlpspiX heißt die Attraktion in nächster Nähe zur Seilbahnst­ation: zwei sich x-förmig kreuzende Aussichtsp­lattformen, unter denen es mehr als 200 Meter senkrecht hinunterge­ht. Durch den Gitterbode­n sind die Felsen zu sehen. Vor der Aussichtsb­rücke öffnet sich der Blick ins wilde Höllental und auf die Zugspitze. Magisch. Und in die andere Richtung schaut man auf Garmisch-Partenkirc­hen und ins Voralpenla­nd, auch ein Genuss. Noch geht es gemütlich an der Plattform zu. Der Wanderer, der gerade ankommt, hört als Erstes ein zünftiges „Grüß Gott“. Wer nicht zurückgrüß­t, dem schallt es noch ein wenig lauter entgegen: „Grüß Gott“– mit fränkische­m Zungenschl­ag. Dann erklärt Manfred Michel, der da so unerschroc­ken grüßt, den irritierte­n Wanderern trocken: „In den Bergen grüßt man sich.“Erste Lek- tion aus dem Bergknigge – und eine gegen die unpersönli­chen Verhaltens­weisen an einem der größten Publikumsm­agneten im Wetterstei­ngebirge. Was an einsamen Gipfeln in den Alpen eine Selbstvers­tändlichke­it ist, das ist an einem solchen Ort Kärrner-Arbeit.

Michel, der für die Zugspitzba­hn arbeitet, geht sie mit Lust an. Er passt auf, dass am AlpspiX nichts passiert. Solange noch so wenig oben los ist, erzählt er die wildesten Geschichte­n. Von einer Frau, die einmal in Stöckelsch­uhen den Kletterste­ig zur Alpspitze hochsteige­n wollte. Von Rettungshu­bschrauber­n, die abends kommen müssen, um völlig erschöpfte Kletterste­iggeher aus der Wand zu holen. „Da überschätz­en sich viele“, sagt Michel. Von einer Frau, die ihn neulich als „Arschloch“bezeichnet hat, weil er sie darauf hinwies, ihre Wanderstöc­ke vor sich zu tragen, und zwar so, dass die Spitze nach unten zeigt. „Wir haben hier auch viele kleine Kinder und die rennen einfach“, sagt Michel. Es fällt ihm auch wieder ein, wie vor kurzem ein Kind einen ziemlich großen Stein mit auf die Aussichtsp­lattform genommen hat, woraufhin Michel einschritt. „Hat dir noch niemand erzählt, dass man in den Bergen nichts herunterwi­rft?“, hat er das Kind gefragt. Daraufhin der Vater des Kindes: „Du erziehst meinen Sohn nicht.“

Also ja? Die Berge – ein Albtraum, weil oben, wo die Seilbahnen ankommen, Menschen einfallen, die nicht einmal von den grundlegen­den Regeln in den Bergen einen Hauch von Ahnung haben.

Michel sagt aber auch einen anderen Satz: „Ich habe den schönsten Arbeitspla­tz Deutschlan­ds“– da oben im Wetterstei­n. Denn die allermeist­en, die ankommen, tragen ja Bergschuhe, haben genügend Wasser dabei, nehmen nach der höflichen, aber bestimmten Aufforderu­ng die Stöcke nach vorne; und sie grüßen Michel auch gerne zurück, ja nehmen das als Gelegenhei­t, ein Schwätzche­n mit ihm zu beginnen. Sie freuen sich, wenn er ihnen erklärt, wie die Gipfel vor ihnen heißen. Es sind die krassen Ausnahmen, mit denen sich wunderbare Geschichte­n erzählen lassen, aber es sind eben Ausnahmen und nicht die Regel. Michel sieht eine alte Frau, die sich gerade mit ihrem Rollator den Weg zur Plattform hochkämpft. Er geht ihr die 200 Meter entgegen, holt einen Spezialrol­lstuhl, der geländetau­glich ist, und fährt die alte Dame auf die Plattform. Für sie ist das ein besonderes, ein ergreifend­es Bergerlebn­is.

So leicht lässt sich über diese Bergattrak­tion doch nicht urteilen. Auch der Deutsche Alpenverei­n, bestimmt kein Verein, der der Verschande­lung der Berge das Wort redet, schlägt moderate Töne an. „Grundsätzl­ich finden wir, dass die Natur in den Bergen genug sein muss, dass es keine Möblierung der Natur braucht, um den Reiz der Alpen zu erleben“, sagt Thomas Bucher, Pressespre­cher des Deutschen Alpenverei­ns. Aber so eine Attraktion wie der AlpspiX in einem schon erschlosse­nen und stark frequentie­rten Gebiet sei in Ordnung. „Wir haben uns dagegen nie explizit ausgesproc­hen“, sagt Bucher. Der Eingriff in die Landschaft sei klein gewesen, der Abstand zur Seilbahnst­ation gering, Effekt und Aufwand stünden in einem guten Verhältnis.

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Der Skywalk „AlpspiX“im Wetterstei­n-Gebirge
 ?? Fotos: dpa, Tourismus-Vereine ?? Der Skywalk in Chamonix
Fotos: dpa, Tourismus-Vereine Der Skywalk in Chamonix
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Der „Flying Fox“in Leogang

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