Mittelschwaebische Nachrichten
Die Alpen als Abenteuerspielplatz
Alpintourismus Immer neue Attraktionen sollen mehr Menschen auf die Berge locken. Wo führt das noch hin?
Die Alpen werden zum Rummelplatz. Überall, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, eröffnen oben in den Bergen neue Attraktionen – gerade so, als ob die Zeit des ewigen Jahrmarkts oben zwischen den Gipfeln ausgerufen worden wäre. An der Seilbahnstation des Aiguille di Midi im Montblanc-Massiv wird der Schritt ins Leere beworben: „Werden Sie sich trauen, auf der Terrasse 3842 auf den Skywalk zu gehen in einer Glaskabine mit 1000 Meter Tiefe unter ihren Füßen?“Am Schilthorn ist dieses Jahr der Thrill Walk eröffnet worden – eine 200 Meter lange Stahlkonstruktion in fast 2700 Metern Höhe, die sich an senkrechte Wände anschmiegt. „Nervenkitzel und Bergerlebnis pur“verspricht die Schilthornbahn AG in ihrer Pressemitteilung dazu. In Leogang gibt es seit fünf Jahren eine Seilrutsche ins Tal, der Flying Fox XXL – eine der schnellsten und längsten Seilrutschen der Welt. „In einem Affenzahn mit bis zu 130 km/h fliegt dir der Fahrtwind um die Ohren, während 140 Meter unter dir der Wald vorbeirauscht. 1600 Meter volle Action durch die Berge“– so wird die Rutsche beworben.
Ruhe und Einkehr in den Bergen, das war gestern: Die Auslastungen für die Infrastruktur müssen stimmen. Die Seilbahnen sollen auch im Sommer profitabel arbeiten. An den Hotspots in den Alpen genügt die grandiose Natur allein nicht mehr. Wenn andernorts die Berge mit künstlichen Attraktionen aufgerüstet werden, muss man selbst mitziehen oder man hat das Nachsehen. Das sind die Grundregeln der Marktwirtschaft, dafür muss man nicht einmal Betriebswirtschaftslehre studiert haben.
Und ja, die Werbung für diese Attraktionen hat etwas Erschreckendes. Das verstört nicht nur die Bergliebhaber, die aus Prinzip nie an den Wochenenden in die Berge fahren, weil die Hütten dann komplett ausgebucht sind und das Gedränge auf den Wegen riesengroß ist. Das verstört auch andere. Aber ist das alles tatsächlich so schlimm und unhaltbar? Ist diese Entwicklung am Berg zu immer mehr Infrastruktur eine einzige touristische Katastrophe?
Ortstermin in Garmisch-Partenkirchen. Ein Donnerstag im August. Das Wetter ist so, wie man es sich in den Bergen immer wünscht: Warm und stabil, also ein Traum. Unten an der Seilbahnstation zum Osterfelderkopf gibt es noch reichlich Parkplätze. Aber: Es ist ja erst die zweite Bahn, die hochfährt. Paraglider steigen mit ihren riesenhaften Rucksäcken ein, manche haben Kundschaft dabei, die sie per Tandemsprung hinunterbringen. Das Abenteuer im Bergurlaub, es lässt sich so einfach buchen.
Wer nur das Geld für die Seilbahn ausgeben will, bekommt am Osterfelderkopf auch ein wenig Nervenkitzel geboten: AlpspiX heißt die Attraktion in nächster Nähe zur Seilbahnstation: zwei sich x-förmig kreuzende Aussichtsplattformen, unter denen es mehr als 200 Meter senkrecht hinuntergeht. Durch den Gitterboden sind die Felsen zu sehen. Vor der Aussichtsbrücke öffnet sich der Blick ins wilde Höllental und auf die Zugspitze. Magisch. Und in die andere Richtung schaut man auf Garmisch-Partenkirchen und ins Voralpenland, auch ein Genuss. Noch geht es gemütlich an der Plattform zu. Der Wanderer, der gerade ankommt, hört als Erstes ein zünftiges „Grüß Gott“. Wer nicht zurückgrüßt, dem schallt es noch ein wenig lauter entgegen: „Grüß Gott“– mit fränkischem Zungenschlag. Dann erklärt Manfred Michel, der da so unerschrocken grüßt, den irritierten Wanderern trocken: „In den Bergen grüßt man sich.“Erste Lek- tion aus dem Bergknigge – und eine gegen die unpersönlichen Verhaltensweisen an einem der größten Publikumsmagneten im Wettersteingebirge. Was an einsamen Gipfeln in den Alpen eine Selbstverständlichkeit ist, das ist an einem solchen Ort Kärrner-Arbeit.
Michel, der für die Zugspitzbahn arbeitet, geht sie mit Lust an. Er passt auf, dass am AlpspiX nichts passiert. Solange noch so wenig oben los ist, erzählt er die wildesten Geschichten. Von einer Frau, die einmal in Stöckelschuhen den Klettersteig zur Alpspitze hochsteigen wollte. Von Rettungshubschraubern, die abends kommen müssen, um völlig erschöpfte Klettersteiggeher aus der Wand zu holen. „Da überschätzen sich viele“, sagt Michel. Von einer Frau, die ihn neulich als „Arschloch“bezeichnet hat, weil er sie darauf hinwies, ihre Wanderstöcke vor sich zu tragen, und zwar so, dass die Spitze nach unten zeigt. „Wir haben hier auch viele kleine Kinder und die rennen einfach“, sagt Michel. Es fällt ihm auch wieder ein, wie vor kurzem ein Kind einen ziemlich großen Stein mit auf die Aussichtsplattform genommen hat, woraufhin Michel einschritt. „Hat dir noch niemand erzählt, dass man in den Bergen nichts herunterwirft?“, hat er das Kind gefragt. Daraufhin der Vater des Kindes: „Du erziehst meinen Sohn nicht.“
Also ja? Die Berge – ein Albtraum, weil oben, wo die Seilbahnen ankommen, Menschen einfallen, die nicht einmal von den grundlegenden Regeln in den Bergen einen Hauch von Ahnung haben.
Michel sagt aber auch einen anderen Satz: „Ich habe den schönsten Arbeitsplatz Deutschlands“– da oben im Wetterstein. Denn die allermeisten, die ankommen, tragen ja Bergschuhe, haben genügend Wasser dabei, nehmen nach der höflichen, aber bestimmten Aufforderung die Stöcke nach vorne; und sie grüßen Michel auch gerne zurück, ja nehmen das als Gelegenheit, ein Schwätzchen mit ihm zu beginnen. Sie freuen sich, wenn er ihnen erklärt, wie die Gipfel vor ihnen heißen. Es sind die krassen Ausnahmen, mit denen sich wunderbare Geschichten erzählen lassen, aber es sind eben Ausnahmen und nicht die Regel. Michel sieht eine alte Frau, die sich gerade mit ihrem Rollator den Weg zur Plattform hochkämpft. Er geht ihr die 200 Meter entgegen, holt einen Spezialrollstuhl, der geländetauglich ist, und fährt die alte Dame auf die Plattform. Für sie ist das ein besonderes, ein ergreifendes Bergerlebnis.
So leicht lässt sich über diese Bergattraktion doch nicht urteilen. Auch der Deutsche Alpenverein, bestimmt kein Verein, der der Verschandelung der Berge das Wort redet, schlägt moderate Töne an. „Grundsätzlich finden wir, dass die Natur in den Bergen genug sein muss, dass es keine Möblierung der Natur braucht, um den Reiz der Alpen zu erleben“, sagt Thomas Bucher, Pressesprecher des Deutschen Alpenvereins. Aber so eine Attraktion wie der AlpspiX in einem schon erschlossenen und stark frequentierten Gebiet sei in Ordnung. „Wir haben uns dagegen nie explizit ausgesprochen“, sagt Bucher. Der Eingriff in die Landschaft sei klein gewesen, der Abstand zur Seilbahnstation gering, Effekt und Aufwand stünden in einem guten Verhältnis.