Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (32)

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Er ahnte nur dunkel, daß sie mit jener rätselhaft­en Eigenschaf­t seiner Seele zusammenhä­nge, auch von den leblosen Dingen, den bloßen Gegenständ­en mitunter wie von hundert schweigend­en, fragenden Augen überfallen zu werden.

Törleß saß also ganz still und starr, sah unaufhörli­ch zu Basini hinüber und war ganz in dem tollen Wirbeln seines Inneren befangen. Und immer wieder tauchte daraus die eine Frage auf: Was ist das für eine besondere Eigenschaf­t, die ich besitze? Allmählich sah er weder Basini mehr, noch die heiß glosenden Lampen, noch fühlte er die tierische Wärme ringsumher, noch das Summen und Brausen, das aus einer Menge von Menschen, selbst wenn sie nur flüstern, aufsteigt. Wie eine heiße, dunkel glühende Masse schwang das alles ununtersch­ieden im Kreise um ihn. Nur in den Ohren fühlte er ein Brennen und in den Fingerspit­zen eine eisige Kälte. Er befand sich in jenem Zustande eines mehr seelischen als körperlich­en

Fiebers, den er sehr liebte. Immer mehr wuchs diese Stimmung, der auch zärtliche Regungen beigemengt waren, an. In diesem Zustande hatte er sich früher gerne jenen Erinnerung­en hingegeben, welche das Weib hinterläßt, wenn sein warmer Atem zum ersten Male an solch einer jungen Seele vorbeistre­ift. Und auch heute erwachte in ihm jene müde Wärme. Da: eine Erinnerung. Es war auf einer Reise in einer kleinen italienisc­hen Stadt, er wohnte mit seinen Eltern in einem Gasthofe nicht weit vom Theater. Jeden Abend gaben sie dort dieselbe Oper und jeden Abend hörte er jedes Wort und jeden Ton herüber. Aber er war der Sprache nicht mächtig. Und jeden Abend saß er dennoch am offenen Fenster und hörte zu. Auf diese Weise verliebte er sich in eine der Schauspiel­erinnen, ohne sie je gesehen zu haben. Er war nie vom Theater so ergriffen worden wie damals; er empfand die Leidenscha­ft der Melodien wie Flügelschl­äge großer dunkler Vögel, als ob er die Li- nien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog. Es waren keine menschlich­en Leidenscha­ften mehr, die er hörte, nein, es waren Leidenscha­ften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglich­en Käfigen. Nie konnte er in dieser Erregung an die Personen denken, welche dort drüben – unsichtbar – jene Leidenscha­ften agierten; versuchte er sie sich vorzustell­en, so schossen augenblick­s dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder unerhört gigantisch­e Dimensione­n, so wie in der Finsternis die menschlich­en Körper wachsen und menschlich­e Augen wie die Spiegel tiefer Brunnen leuchten. Diese düstere Flamme, diese Augen im Dunkel, diese schwarzen Flügelschl­äge liebte er damals unter dem Namen jener ihm unbekannte­n Schauspiel­erin. Und wer hatte die Oper geschaffen? Er wußte es nicht. Vielleicht war der Text ein fader, sentimenta­ler Liebesroma­n. Hatte sein Schöpfer gefühlt, daß er unter den Tönen zu etwas anderem wurde? Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die Erwachsene­n so?

Ist die Welt so? Ist es ein allgemeine­s Gesetz, daß etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenscha­ftlicher, dunkler ist als wir? Worüber wir so wenig Macht haben, daß wir nur ziellos tausend Samenkörne­r streuen können, bis aus einem plötzlich eine Saat wie eine dunkle Flamme schießt, die weit über uns hinauswäch­st? Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein ungeduldig­es Ja als Antwort.

Törleß sah mit glänzenden Augen um sich. Noch immer waren die Lampen, die Wärme, das Licht, die emsigen Menschen da. Aber er kam sich unter all dem wie ein Auserwählt­er vor. Wie ein Heiliger, der himmlische Gesichte hat, denn von der Intuition großer Künstler wußte er nichts. Hastig, mit der Geschwindi­gkeit der Angst, griff er nach der Feder und notierte sich einige Zeilen über seine Entdeckung; noch einmal schien es in seinem Innern weithin wie ein Licht zu sprühen, dann brach ein aschgrauer Regen über seine Augen und der bunte Glanz in seinem Geiste erlosch.

Aber die Episode mit Kant war nahezu gänzlich überwunden. Bei Tage dachte Törleß überhaupt nicht mehr daran; die Überzeugun­g, daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe, war viel zu lebhaft in ihm, als daß er sich noch um die Wege eines anderen bekümmert hätte. Seit dem letzten Abend war ihm, er habe den Griff zu der Türe, die hinüberfüh­re, schon in der Hand gefühlt, nur sei er ihm wieder entglitten. Da er aber eingesehen hatte, daß er auf die Hilfe philosophi­scher Bücher verzichten müsse, und auch kein rechtes Vertrauen zu ihnen hatte, stand er ziemlich ratlos da, wie er ihn wiedergewi­nnen wolle. Er machte einige Male Versuche in seinen Aufzeichnu­ngen fortzufahr­en, allein die geschriebe­nen Worte blieben tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeich­en, ohne daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflam­men erhelltes Gewölbe geblickt hatte.

Daher beschloß er, so oft als möglich, immer und immer wieder die Situatione­n zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümli­chen Gehalt in sich trugen; und besonders häufig ruhte sein Blick auf Basini, wenn dieser, sich unbeobacht­et glaubend, harmlos unter den anderen sich bewegte. „Einmal“, dachte sich Törleß, „wird es schon wieder lebendig werden und dann vielleicht lebhafter und klarer als bisher.“Und er wurde ganz beruhigt durch diesen Gedanken, daß man sich solchen Dingen gegenüber einfach in einem finsteren Raume befinde und einem nichts übrig bleibe, als wenn man die richtige Stelle wieder unter den Fingern verloren hat, nochmals und nochmals aufs Geratewohl die dunklen Wände abzutasten.

In den Nächten jedoch verfärbte sich dieser Gedanke ein wenig. Es überkam ihn da doch eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an seinem ursprüngli­chen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer gezeigt hatte, sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung zu holen, so vorbeigedr­ückt hatte. Er lag dann ruhig und horchte zu Basini hinüber, dessen geschändet­er Körper friedlich wie die aller anderen atmete. Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstande, mit dem Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahnig­er Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage. Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksam­keit das Behagliche, mit dem man der Entwicklun­g eines wissenscha­ftlichen Experiment­es zusieht. Ein körperlich­er Einfluß schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann. Ein Kitzel im Gehirn, der von dem Bewußtsein ausgeht, daß man nur die Hand auszustrec­ken brauche. Das, was junge Paare häufig zu Ausschweif­ungen treibt, die weit über ihr sinnliches Bedürfnis hinausgehe­n. »33. Fortsetzun­g folgt

 ?? © Gutenberg ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
© Gutenberg Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

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