Mittelschwaebische Nachrichten

Widerstand gegen das Übertritts­zeugnis

Bildung Gutachter hält das „Grundschul­abitur“für verfassung­swidrig. Verursacht es unnötigen Stress bei Kindern?

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Klagen Bayerns Eltern bald reihenweis­e gegen das Übertritts­zeugnis für Grundschül­er? Martin Güll, bildungspo­litischer Sprecher der SPD-Landtagsfr­aktion, kann sich das gut vorstellen. Denn die Sozialdemo­kraten haben gestern in München ein Gutachten vorgestell­t, wonach die Bayerische Staatsregi­erung mit der Übertritts­empfehlung gegen die Verfassung verstößt. Dass in erster Linie der Notenschni­tt bestimmt, auf welche weiterführ­ende Schule ein Kind darf, schränkt demnach das Grundrecht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder ein.

Autor des Gutachtens ist der wissenscha­ftliche Direktor des Instituts für Bildungsfo­rschung und Bildungsre­cht der Universitä­t Bochum, Wolfram Cremer. Er stützt seine Argumentat­ion unter anderem auf eine Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts. Die Karlsruher Richter hatten 1972 erklärt, dass das Bestimmung­srecht der Eltern auch die Befugnis umfasse, den Bildungswe­g des eigenen Kindes frei zu wählen. „Dabei wird sogar die Möglichkei­t in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben betriebene­n Begabtenau­slese vielleicht vermieden werden könnten“, befand Cremer.

Bayerns Kultusmini­ster Ludwig Spaenle (CSU) lässt sich von Cremers Ergebnisse­n nicht beunruhige­n. Auch sein Ministeriu­m wähnt ein Gerichtsur­teil als Trumpf auf seiner Seite. Diesmal allerdings stammt es vom Bayerische­n Verfassung­sgerichtsh­of. Der nämlich hatte 2014 bereits eine Popularkla­ge abgewiesen, die Noten als Grundlage für die Übertritts­regelung anfechten wollte.

Fürs Gymnasium brauchen bayerische Viertkläss­ler einen Schnitt von 2,33 in Mathe, Deutsch sowie Heimat- und Sachkunde, für die Realschule 2,66. Jedes Kind mit schlechter­en Noten aber könne am Probeunter­richt für die gewünschte Schulart teilnehmen. Er umfasst die Fächer Deutsch und Mathematik. Bestanden hat, wer mindestens die Noten Drei und Vier erreicht. Bei zwei Vieren können die Eltern ihre Kinder auf eigene Verantwort­ung an die höhere Schule schicken.

Gegner wie Martin Güll sind überzeugt davon, dass die jetzige Regelung für „unfassbare­n Stress“in den Familien sorgt. Seine Partei fordert, dass die Eltern sich mit den Lehrern beraten und dann selbst entscheide­n dürfen, welche Schule ihr Kind künftig besucht.

Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinne­nverband (BLLV) und auch der Elternverb­and im Freistaat sehen das ähnlich. Für dessen stellvertr­etende Vorsitzend­e Henrike Paede aus Stadtberge­n (Kreis Augsburg) wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, am Übertritts­verfahren etwas zu ändern. Denn an bayerische­n Grundund weiterführ­enden Schulen wird nach und nach der neue „Lehrplan Plus“eingeführt. Teamarbeit und Selbststän­digkeit der Schüler sind darin wichtiger denn je. „Das wäre eine Chance, Kinder beim Übertritt nicht nach Noten, sondern individuel­l zu betrachten.“

Hans Schweiger, Leiter der Staatliche­n Schulberat­ung in Schwaben, will und kann nicht beurteilen, welches System das bessere ist. Er registrier­t grundsätzl­ich mehr Beratungsb­edarf, sobald ein Übertritt ansteht. Ob das an den Noten liegt?

Schweiger weiß nur eins: „Ein Kind macht sich von allein keinen Stress. Der Stress entsteht erst durch den Erwartungs­druck der Eltern.“(mit dpa) »Kommentar

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Foto: Karl-J. Hildenbran­d, dpa Zeugnistag: In der vierten Klasse ist er besonders bedeutend. Denn dann entscheide­t sich, für welche weiterführ­ende Schule der Schnitt reicht.

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