Mittelschwaebische Nachrichten
Bloß kein Drama!
Colm Tóibíns Porträt einer jungen Witwe
So unspektakulär kann gute Literatur sein. Ruhiges Tempo, keine lauten Töne, Alltagsszenen, kaum Tränen. Obwohl sich ja ein Drama ereignet in Colm Tóibíns „Nora Webster“. Der Roman setzt Ende der 60er Jahre ein, da ist die Heldin eben Witwe geworden und muss zur Trauer hinzu ertragen, dass sich an den Abenden Bekannte aus der irischen Kleinstadt Enniscorthy im Wohnzimmer einfinden und nach den Beileidsbekundungen unterhalten werden wollen. Die emotionale Distanz, die sie zu ihren Gästen hält, bewahrt auch Tóibín gegenüber Nora selbst. Er zeigt sie als kluge, intelligente, aber auch sperrige Frau, die vom Umfeld wie auch vom Leser kein Mitleid einfordert, aber sich ebenso gegen Bevormundung und soziale Kontrolle wehrt. Mit kleinen Schritten und auch einer gewissen Rücksichtslosigkeit gegenüber ihren vier Kindern versucht Nora sich in ihre neue Rolle einzufinden. Sie färbt sich die Haare, beginnt zu singen, gestaltet das Haus um. Und sie kehrt, jedoch mit gewissem Widerwillen, in ihr ehemaliges Büro zur tyrannischen Chefin zurück. Tóibíns Kunst ähnelt der des Sohnes Donal. Der fängt mit seinem Fotoapparat kleine Puzzlestücke der Welt ein; Tóibín wiederum leuchtet kleine Alltagszenen aus, fügt sie zu einem wunderbaren Roman. So leise, so schlicht, so schön kann eben nur gute Literatur sein. Stefanie Wirsching