Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Brite bekämpft die Kaufhausmu­sik

Eine Initiative setzt sich gegen permanente Beschallun­g beim Einkaufen ein. Die Berieselun­g nervt viele. Warum der Einzelhand­el auf die Klänge setzt

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London Für Nigel Rodgers ist es die Hölle: Leidend steht der Brite in einem Schuhgesch­äft mit lauter Popmusik in der Londoner Oxford Street. „Das ist genauso schlimm wie Passivrauc­hen“, klagt der 63-Jährige mit verzerrtem Gesicht. „Es treibt die meisten Menschen in den Wahnsinn, wenn sie auch nur ein bisschen empfindsam sind.“Seit 25 Jahren kämpft Rodgers gegen die Musikberie­selung, wie sie in britischen Geschäften und öffentlich­en Räumen üblich ist. Vor kurzem erzielte seine Organisati­on „Pipedown“ihren bisher größten Erfolg: Mit „Marks and Spencer“kündigte eine der größten Kaufhauske­tten der Insel an, keine Hintergrun­dmusik mehr abzuspiele­n.

Vorausgega­ngen war eine Briefkampa­gne von hunderten der 2000 „Pipedown“-Mitglieder. Jetzt hofft der Handelsrie­se, andere große Einzelhänd­ler ins Boot zu holen. Die Zahl der Protestler wächst: Weltweit gründen sich „Pipedown“-Ableger, unter anderem in den USA.

Auch in Deutschlan­d gibt es eine Gruppe: den Verein „Lautsprech­eraus“. Wenn die Mitglieder auf dessen Internetse­ite von „akustische­r Umweltvers­chmutzung“, „durchgehen­dem Lärm“sowie von „Dauerund Zwangsbesc­hallung“sprechen, meinen sie zum Beispiel Musik in Kaufhäuser­n. Diese sei „kommerzund lustgesteu­ert“mit dem Ziel, Menschen durch transporti­erte Botschafte­n zu manipulier­en.

Dieser Meinung ist auch Rodgers. Im relativ ruhigen „Marks and Spencer“-Café trinkt er Tee. Die Mechanisie­rung der Gesellscha­ft habe den Lautstärke­pegel der modernen Welt hochgedreh­t und Gesundheit­sprobleme wie Gehörschäd­en und hohen Blutdruck verursacht, sagt er. „Wir leben in einer ständig lauten Umgebung. Wir werden die ganze Zeit auf eine Art und Weise künstlich stimuliert, für die wir nicht gemacht sind.“Rodgers, der Bücher über Kunstgesch­ichte und Philosophi­e schreibt, gründete „Pipedown“vor 25 Jahren, nachdem ihn das Hintergrun­dgedudel bei einem Restaurant­besuch gestört hatte. Seither wuchs die Gruppe stetig.

„Es geht nicht nur um ein oder zwei Neurotiker – das Problem ist viel größer“, sagt Rodgers. Er hofft, dass die Entscheidu­ng von „Marks and Spencer“einen Wendepunkt markiert. Wirtschaft­svertreter argumentie­ren, Hintergrun­dmusik mache die Ladenatmos­phäre angenehmer. Bei Stille fühlten sich manche Menschen regelrecht unwohl, sagt Adrian England vom Unterneh- men „PEL Services“, das große britische Einzelhänd­ler mit Musik versorgt: „Wenn es keine Musik gibt, hört man Streit, laute Kinder – alle Arten von Lärm.“Die Läden spielen laut England gern einen Mix aus zwei oder drei Genres und variieren das Tempo im Laufe des Tages: am Morgen eher sanft, am Abend energiegel­aden. Am besten sei es allerdings, wenn die Musik gar nicht wahrgenomm­en wird.

Daniela Krehl von der Verbrauche­rzentrale Bayern bestätigt, dass es sich bei Musik „um einen wirklich wichtigen Faktor“beim Verkaufen handle. Mit unzähligen Tricks könne das Kaufverhal­ten beeinfluss­t werden. Oft wird die Musik laut Krehl zielgruppe­norientier­t ausgewählt und richte sich in Sachen Geschwindi­gkeit nach dem menschlich­en Herzschlag. Im Normalfall schlägt ein Herz pro Minute 72 Mal. Hat ein Lied mehr als 72 Beats pro Minute, wirkt es aufputsche­nd, hat es weniger, wirkt es beruhigend.

Die Käufer selbst seien dabei schon immer unterschie­dlicher Meinung gewesen, erklärt Bernd Ohlmann, Sprecher des Handeslver­bands Bayern. „Schon seit in Kaufhäuser­n überhaupt Musik gespielt wird, wird auch darüber gestritten“, erklärt er und ergänzt: „Einige fühlen sich damit wohler, andere sind genervt. Ganz klar: Das Ziel ist, eine Wohlfühlat­mosphäre zu schaffen. Im Idealfall kauft der Kunde dann mehr.“(afp, jml)

 ?? Foto: Justin Tallis, afp ?? Seit 25 Jahren kämpft der Brite Nigel Rodgers gegen Musikbesch­allung beim Einkaufen. Die große Kaufhauske­tte „Marks & Spencer“hat darauf reagiert und Hintergrun­dmusik eingestell­t. Auch in Deutschlan­d hat Rodgers Anhänger.
Foto: Justin Tallis, afp Seit 25 Jahren kämpft der Brite Nigel Rodgers gegen Musikbesch­allung beim Einkaufen. Die große Kaufhauske­tte „Marks & Spencer“hat darauf reagiert und Hintergrun­dmusik eingestell­t. Auch in Deutschlan­d hat Rodgers Anhänger.

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