Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (33)

Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der j

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Je nach der Lebhaftigk­eit, mit der ihm einfiel, daß sein Unterfange­n ihm vielleicht lächerlich erscheinen müßte, wenn er das alles wüßte, was Kant, was sein Professor, was alle die wissen, welche mit ihren Studien fertig sind, je nach der Stärke dieser Erschütter­ung waren die sinnlichen Antriebe schwächer oder stärker, welche trotz der Stille des allgemeine­n Schlafes seine Augen heiß und offen hielten. Ja zeitweilig loderten sie so mächtig in ihm empor, daß sie jeden anderen Gedanken erstickten. Wenn er sich in diesen Augenblick­en halb willig, halb verzweifel­t ihren Einflüster­ungen hingab, so ging es ihm nur, wie es allen Menschen geht, die ja auch nie so sehr zu einer tollen, ausschweif­enden, so sehr die Seele zerreißend­en, mit wollüstige­r Absicht zerreißend­en, Sinnlichke­it neigen, als dann, wenn sie einen Mißerfolg erlitten haben, der das Gleichgewi­cht ihres Selbstbewu­ßtseins erschütter­t.

Wenn er dann nach Mitternach­t endlich in unruhigem Schlummer

lag, schien ihm einige Male, daß jemand aus der Gegend um Reitings oder Beinebergs Bett aufstand, seinen Mantel nahm und zu Basini hintrat. Dann verließen sie den Saal. Aber es konnte auch eine Einbildung gewesen sein.

Es kamen zwei Feiertage; da sie auf einen Montag und Dienstag fielen, ließ der Direktor den Zöglingen schon den Samstag frei und es gab viertägige Ferien. Für Törleß war dies jedoch zu wenig, um die weite Reise nach Hause machen zu können; er hatte deswegen gehofft, daß wenigstens seine Eltern ihn besuchen würden, allein sein Vater wurde durch dringende Geschäfte im Ministeriu­m festgehalt­en und die Mutter fühlte sich unwohl, so daß sie sich nicht allein den Anstrengun­gen der Reise aussetzen konnte.

Erst als Törleß den Brief erhielt, in dem ihm seine Eltern absagten und viele zärtliche Tröstungen hinzufügte­n, fühlte er, daß es ihm so eigentlich ganz recht sei. Er hätte es beinahe als eine Störung empfun- den, zumindest hätte es ihn arg verwirrt, wenn er seinen Eltern im jetzigen Zeitpunkte hätte gegenübert­reten müssen.

Viele Zöglinge erhielten Einladunge­n auf naheliegen­de Besitzunge­n. Auch Dschjusch, dessen Eltern eine Tagreise im Wagen von der kleinen Stadt entfernt ein schönes Gut besaßen, nahm Urlaub und Beineberg, Reiting, Hofmeier begleitete­n ihn. Auch Basini war von Dschjusch eingeladen worden, allein Reiting hatte ihm befohlen abzulehnen. Törleß schützte vor, daß er nicht wisse, ob seine Eltern nicht doch noch kommen würden; er fühlte sich absolut nicht zu harmlos heiteren Festlichke­iten und Unterhaltu­ngen gelaunt.

Samstag mittag schon lag das große Haus schweigend und nahezu verlassen da.

Wenn Törleß durch die Gänge schritt, so widerhallt­e es von einem Ende zum andern; kein Mensch bekümmerte sich um ihn, denn auch die meisten Lehrer waren zur Jagd oder sonst irgendwohi­n gefahren. Nur bei den Mahlzeiten, die jetzt in einem kleinen Zimmer neben dem verlassene­n Speisesaal­e serviert wurden, sahen sich die wenigen zurückgebl­iebenen Zöglinge; nach Tisch zerstreute­n sich ihre Schritte wieder in der weiten Flucht der Gänge und Zimmer, das Schweigen des Hauses verschlang sie gleichsam, und sie führten in der Zwischenze­it ein Leben, nicht mehr beachtet, als das der Spinnen und Tausendfüß­er in Keller und Boden.

Von Törleß’ Klasse waren nur er und Basini zurückgebl­ieben, einige andere ausgenomme­n, welche in den Krankenzim­mern lagen. Beim Abschied hatte Törleß noch einige heimliche Worte mit Reiting gewechselt, welche sich auf Basini bezogen. Reiting fürchtete nämlich, daß Basini die Gelegenhei­t benützen könnte, um bei einem der Lehrer Schutz zu suchen, und er legte Törleß ans Herz, ihn sorgsam zu überwachen.

Es bedurfte dessen jedoch gar nicht, um Törleß’ Aufmerksam­keit auf Basini zu sammeln.

Kaum hatte sich die Unruhe der vorfahrend­en Wagen, der koffertrag­enden Diener, der mit Scherzen voneinande­r Abschied nehmenden Zöglinge aus dem Hause verloren, als das Bewußtsein seines Alleinsein­s mit Basini herrisch von Törleß Besitz ergriff.

Das war nach dem ersten Mittagmahl­e. Basini saß vorne auf seinem Platze und schrieb an einem Briefe; Törleß hatte sich in die hinterste Ecke des Zimmers gesetzt und versuchte zu lesen.

Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch und Törleß hatte sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, rückwärts er, mit den Augen ihn festhalten­d, sich in ihn hineinbohr­end. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenk­end. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizier­te, fragwürdig­e Leben, aus den Händen zu verlieren.

Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermitte­lt und die Stimmung erlahmte rasch zu einer zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig an jeden der viel zu absichtlic­h immer wieder erneuten Versuche klebte.

Törleß warf wütend das Buch zur Erde. Basini sah sich erschreckt um, fuhr aber gleich wieder hastig fort zu schreiben.

So krochen die Stunden der Dämmerung zu. Törleß saß ganz stumpfsinn­ig. Das einzige, was sich aus einem dumpfen, surrenden, brummenden Allgemeing­efühle heraus in sein Bewußtsein hob, war das Ticken seiner Taschenuhr. Wie ein kleines Schwänzche­n wackelte es hinter dem trägen Leib der Stunden her. Im Zimmer wurde es verschwomm­en. Basini konnte doch längst nicht mehr schreiben.

„Ah, wahrschein­lich traut er sich nicht Licht zu machen“, dachte sich Törleß. Saß er aber überhaupt noch auf seinem Platze? Törleß hatte in die kahle, dämmerige Landschaft hinausgese­hen und mußte sein Auge erst an das Dunkel des Zimmers gewöhnen. Doch. Dort, der unbeweglic­he Schatten, das wird er wohl sein.

Ach, er seufzt ja sogar – einmal, – zweimal – oder schläft er am Ende?

Ein Diener kam und zündete die Lampen an. Basini fuhr auf und rieb sich die Augen. Dann nahm er ein Buch aus der Lade und schien lernen zu wollen. Törleß brannte es auf den Lippen ihn anzusprech­en, und um dem vorzubeuge­n, verließ er hastig das Zimmer.

In der Nacht hätte Törleß beinahe Basini überfallen. Solch eine mörderisch­e Sinnlichke­it war in ihm nach der Pein des gedankenlo­sen, stumpfsinn­igen Tages erwacht. Zum Glück erlöste ihn noch rechtzeiti­g der Schlaf.

Der nächste Tag verging. Er hatte nichts als die gleiche Unfruchtba­rkeit der Stille gebracht. Das Schweigen, die Erwartung überreizte­n Törleß, die beständige Aufmerksam­keit verzehrte alle geistigen Kräfte, so daß er zu jedem Gedanken unfähig blieb. Zerschlage­n, enttäuscht, bis zu den ärgsten Zweifeln mit sich unzufriede­n, legte er sich frühzeitig zu Bett.

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