Mittelschwaebische Nachrichten
Amerikas größte Wunde
Vor 15 Jahren griffen Terroristen New York und Washington an. Was die Welt verändert hat und Überlebende noch heute belastet
New York Es ist ein strahlender Tag wie damals. Die Sonne glitzert auf dem Wasser im Süden Manhattans, am Ufer wärmt sie die verbeulten Bronzeteile eines überdimensionierten Globus. „Wir haben wahrscheinlich immer noch nicht verstanden, was an 9/11 passiert ist“, sagt Mark Wagner. Es ist nicht weit hier vom Battery Park zu jenem Areal, das 2001 als Ground Zero bekannt wurde. Der Blick zur Freiheitsstatue ist geblieben, doch die Welt ist eine andere, seit das New Yorker World Trade Center einem Terrorangriff zum Opfer fiel.
Dafür steht nicht zuletzt die ramponierte Kugel in Wagners Rücken. Minoru Yamasaki, der Architekt der Zwillingstürme, gab sie in den 60er Jahren beim deutschen Bildhauer Fritz Koenig für den Hauptplatz in Auftrag, als Symbol für den Weltfrieden. 30 Jahre nach der Fertigstellung versank die im Volksmund als The Sphere bekannte Skulptur im Schutt einer unfassbaren Aggression. Es war Wagner, der sie später barg. Schwer beschädigt, aber eben nicht zerstört, steht sie seither am Ufer des Hudson River.
„Wie sind wir an diesen Punkt gelangt?“, fragt sich der hochgewachsene Architekt noch heute mit einem sonoren Bass, der nicht zu seiner Ratlosigkeit passen will. „Wie sind wir so weit davon abgekommen, mitfühlende menschliche Wesen zu sein, dass irgendjemand in der Welt so einen Anschlag unternehmen würde?“
Am 11. September 2001, einem sonnigen Dienstagmorgen vor 15 Jahren, brachten 19 Mitglieder der islamistischen Terrororganisation Al-Kaida vier Passagierflugzeuge in ihre Gewalt. Zwei davon steuerten sie in die Zwillingstürme des World Trade Centers (WTC), ein drittes gegen das Verteidigungsministerium in Washington. Das vierte hatten die Entführer ebenfalls auf den Weg in die Hauptstadt gelenkt, doch als Passagiere versuchten, das Cockpit zu stürmen, brachten die Terroristen die Maschine auf einem Acker zum Absturz. Vermutlich hätte sie den Kongress oder das Weiße Haus treffen sollen.
Auch so war die Attacke die tödlichste, die je von fremdem Boden aus gegen die USA unternommen wurde. Knapp 3000 Menschen starben an diesem Tag. Keine zwei Stunden, nachdem die beiden 110 Stockwerke hohen WTC-Türme getroffen worden waren, stürzten sie ein. Bis zu einem Drittel der Weltbevölkerung erlebte diesen Moment live über die Medien mit.
Jeanmarie Hargraves kommen heute noch die Tränen, wenn sie an ihren Bruder denkt. „Er arbeitete im 105. Stock des Nordturms.“American-Airlines-Flug 11 war um 8.46 Uhr in die Nordostseite des Gebäudes gerast, zwischen dem 92. und 98. Stockwerk. Timothy John Hargraves, den alle nur T.J. nannten, rief wenige Minuten später seine Frau Patty an und vermutete einen Bombenanschlag. „Ich muss gehen, die Luft wird knapp“, sagte der Vater dreier Kinder und versprach, sich bald zu melden. Als die Türme fielen, wusste T.J.s Schwester, dass er nicht überlebt hatte – „der Weg nach unten war schlicht zu lang“.
Hargraves hat neun Jahre gebraucht, bis sie sich wieder in den Süden Manhattans traute. „Es war damals so grauenhaft, dass ich das nicht noch einmal sehen wollte.“Der Lärm, das Geschrei, die Tränen. Der Qualm, der Gestank nach Schutt und nach Leichen.
Wenige haben die Kriegszone so hautnah erlebt wie Mark Wagner. Er war ein bisschen zu spät dran gewesen am 11. September – eigentlich hätte er sich im 77. Stock des Nordturms zu einer Besprechung mit der Port Authority of New York and New Jersey einfinden sollen. Der mächtigen Infrastrukturbehörde gehörten die Zwillingstürme; im Auftrag eines Subunternehmers betreute Wagner für sie ein Flughafenprojekt. Als er sein eigenes Büro verlassen wollte, deutete der Portier aber auf den Fernseher. „Dann habe ich den Rest des Tages mit Versuchen verbracht, Freunde und Kollegen zu erreichen.“
Wagner wusste noch nicht, dass das Katastrophengebiet zum Zentrum seines Lebens werden würde. Die Port Authority war durch die Zerstörung ihres Hauptquartiers handlungsunfähig geworden. Chefarchitekt Robert Davidson meldete sich bei Wagners Arbeitgeber: „Ich muss wissen, was von meinem Heim übrig ist, aber ich kann es nicht selbst tun. Ich kann auch niemanden meiner Leute bitten. Kannst du jemanden schicken?“Die Wahl fiel auf Wagner. „Die Sicherheitskräfte riskierten ihr eigenes Leben, um Leichen zu bergen“, sagt der 47-Jährige heute. „Und mittendrin ich mit einer Kamera und ein paar Handzetteln: ,Bitte aufbewahren‘. Anfangs bin ich da nicht nur auf Verständnis gestoßen.“
Das Erste, was Wagner fand, war Koenigs Friedens-Skulptur. „Es ist, wie wenn man am Strand eine Muschel aufhebt, um sich an den Tag zu erinnern“, sagt Wagner. Gerettet wurde auch das Mahnmal für den Anschlag von 1993, als ein Bombenangriff das World Trade Center erstmals erschüttert hatte. Dann Materialproben der Türme. Die Idee eines Museums kam auf. Ein Hangar am John-F.-KennedyFlughafen wurde zur improvisierten Sammelstätte und Wagner ihr hauptamtlicher Betreuer. Aus dem Mann, der Häuser bauen wollte, war ein Schuttverwalter geworden. Doch seine grundlegende Frage konnte ihm kein Relikt beantworten: Wie konnte es so weit kommen?
Amerikanische Medien fragten schon unmittelbar nach den Anschlägen mit Blick auf die Attentäter: „Warum hassen sie uns?“Dabei ging es nicht nur um Globalisierungsverlierer und autoritäre Regimes, sondern es wurde auch Selbstkritik laut: hinsichtlich der US-Außenpolitik im Nahen Osten und dem Iran, der Aufrüstung der Taliban durch Ronald Reagan oder der inkonsequenten Behandlung Saudi-Arabiens. Die Menschenverachtung, mit der tausende von Zivilisten attackiert worden waren, war dennoch nicht zu begreifen.
Sowohl Präsident George W. Bush als auch New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani legten schnell Wert darauf, sich nicht in eine Hassspirale ziehen zu lassen; beide traten der Versuchung entge- gen, Muslime oder den Islam auszugrenzen. Neun Tage später jedoch läutete Bush eine Zeitenwende ein: „Nacht fiel über eine veränderte Welt“, sagte er über den Abend des Attentats, „eine Welt, in der die Freiheit selbst attackiert wird.“Dann kündigte er einen globalen Krieg gegen den Terror an.
Bushs Regierung begann nicht nur langwierige Bodenkriege in Afghanistan und dem Irak. Sie entschied sich auch für radikale NeuInterpretationen geltenden Rechts, von der Einschränkung amerikanischer Bürgerrechte bis zu brutalen Verhörpraktiken gegenüber Feinden. Der Preis war hoch: In vielen Ländern verfestigte sich ein Antiamerikanismus. Die Grundwerte der USA erwiesen sich freilich als stabiler. Enthüllungen der Presse, Urteile des Obersten Gerichts und nicht zuletzt die Wähler sorgten dafür, dass die radikalsten Maßnahmen rückgängig gemacht wurden. Unter Nachfolger Barack Obama folgte eine Administration, die sich bemühte, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Die Bilanz ist dennoch gemischt. Den Einsatz von Bodenkräften konnte Obama nur reduzieren, weil er geheime Drohneneinsätze massiv ausbaute, und auch die fordern zivile Opfer. Und das Anti-Terror-Gefängnis Guantanamo Bay gibt es noch immer.
Osama bin Laden ist zwar inzwischen tot und Al-Kaida stark geschwächt; nach 9/11 hat es in den USA keinen vergleichbaren Großanschlag mehr gegeben. Doch die Bedrohung hat sich gewandelt: In Somalia, Jemen, Irak und Syrien sind neue Brutstätten für Extremisten entstanden. Der selbst ernannte Islamische Staat wirbt um potenzielle Einzeltäter, die schon im Zielland sind – dagegen gibt es keine wasserdichte Prävention. Einer aktuellen Umfrage des Chicago Council of Global Affairs zufolge empfinden heute ähnlich viele Amerikaner ihr Land als gefährdet wie 2002.
Die Freiheitsstatue, die seit Jahrhunderten Fremde begrüßt, wird deshalb vorerst nur 10 000 syrischen Flüchtlingen einen Neuanfang versprechen. Freien Handel, für den das World Trade Center steht, sehen die aktuellen Präsidentschaftskandidaten beider Parteien skeptisch. Donald Trump will gar eine Grenzmauer errichten und Muslime unter Generalverdacht stellen.
Auch gegen solche Reflexe richtet sich das 9/11-Museum, das Mark Wagner 2014 zusammen mit seinem neuen Arbeitgeber am ehemaligen Ground Zero eingeweiht hat. Statt sich auf den Hass der Attentäter zu konzentrieren, erzählt es von Hilfsbereitschaft. 9/11 Memorial Plaza ist ein belebter öffentlicher Park geworden, um den herum heute dreimal so viele Menschen leben wie vor dem Angriff. Zum 15. Jahrestag soll auch die Friedens-Skulptur The Sphere wieder in die Nähe ihres alten Standorts ziehen.
Für ein Gefühl von Abschluss ist es trotzdem zu früh. Jeanmarie Hargraves schöpft zwar viel Kraft aus ihrer Arbeit für das nahe gelegene 9/11 Tribute Center, in dem sie Besuchern seit einiger Zeit zusammen mit anderen Hinterbliebenen ihre Geschichte erzählt. Jahrestage bleiben aber schwierig, sagt die 59-Jährige mit den weichen Gesichtszügen. Und kommt zu dem Schluss: „Man lässt das nie hinter sich.“
Eine Frage bleibt: Wie konnte es so weit kommen?