Mittelschwaebische Nachrichten

Jetzt kontert die Kanzlerin

Nach den Anfeindung­en der letzten Tage meldet sich Angela Merkel zu Wort. In einer kämpferisc­hen Rede verteidigt sie die Flüchtling­spolitik und appelliert an ihre Kritiker: „Jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen“

- VON MARTIN FERBER

Berlin Eine gute Stunde lang rücken die Parteien eng zusammen, der politische Streit kommt mit einem Schlag zum Erliegen. Am Mittag unterbrech­en die Abgeordnet­en des Bundestags ihre Haushaltsd­ebatte, die traditione­ll das Ende der parlamenta­rischen Sommerpaus­e markiert – und damit auch den Schlagabta­usch zwischen Regierung und Opposition. Gemeinsam fahren sie in Omnibussen zum Kammermusi­ksaal der Philharmon­ie. Dort findet der Staatsakt für den gestorbene­n früheren Bundespräs­identen Walter Scheel statt. Über alle Parteigren­zen hinweg würdigen sie den früheren FDP-Chef, Außenminis­ter und Bundespräs­identen als großen deutschen Staatsmann.

Dabei war Walter Scheel als aktiver Politiker einst so umstritten wie wenige andere, worauf auch Joachim Gauck, sein siebter Nachfolger im Amt des Staatsober­hauptes, in seiner Rede hinweist. In der eigenen Partei stieß der von Scheel betriebene Wechsel von der Union zur SPD nicht nur auf Zustimmung. Als Au- der soziallibe­ralen Koalition verantwort­ete er maßgeblich die neue Ostpolitik, gegen die damals die Opposition­sparteien CDU und CSU mit allen Bandagen kämpften und sogar vor das Bundesverf­assungsger­icht zogen.

Für Angela Merkel, die den Staatsakt schweigend verfolgt, mag es in diesen Tagen, da ihr der Wind heftig ins Gesicht bläst, ein Trost sein, dass es früher auch nicht besser war und Politiker in Regierungs­verantwort­ung schon immer gegen heftige Widerständ­e anzukämpfe­n hatten. Was in den 70ern die Ostpolitik war, ist jetzt die Flüchtling­sfrage.

In der Generaldeb­atte am Morgen, dem Höhepunkt der viertägige­n Haushaltsd­ebatte, zeigt sich die Bundeskanz­lerin reichlich unbeeindru­ckt von der massiven Kritik, die vor allem aus den Reihen der Schwesterp­artei CSU und des Koalitions­partners SPD kommt. Sie verteidigt ihren Kurs und verweist darauf, was seit dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise vor genau einem Jahr alles auf den Weg gebracht wurde. „Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns viel abverlangt wurde“, Merkel, „ein Jahr voller Entscheidu­ngen“. Es sei gelungen, den Zustrom zu ordnen, zu regulieren und zu begrenzen. Mit Argumenten versucht Merkel, die zur schwarzen Hose einen roten Blazer trägt und somit schon rein optisch ein Bekenntnis zur Großen Koalition abgibt, ihren Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Die Situation ist heute um ein Vielfaches besser als vor einem Jahr“, sagt sie. Vieles habe man auf den Weg gebracht – „aber es bleibt noch viel zu tun“. Ausdrückli­ch verteidigt sie in diesem Zusammenha­ng auch das Flüchtling­sabkommen der EU mit der Türkei. Dies sei nicht nur „in beiderseit­igem Interesse“, sondern sogar „ein Modell für weitere Abkommen“.

Mit Blick auf die Landtagswa­hlen in Mecklenbur­g-Vorpommern will Merkel nichts von einer Alleinschu­ld wissen. „Jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen“, sagt sie, die AfD sei „eine Herausford­erung für uns alle in diesem Haus“. Auch bringe es nichts, nun die Wähler zu beschimpfe­n. „Politiker sollen sich in ihrer Sprache mäßigen“, apßenminis­ter pelliert sie an die eigenen Parteifreu­nde, den Koalitions­partner und die Opposition­sparteien. „Wenn wir anfangen, uns sprachlich an jenen zu orientiere­n, die an Lösungen nicht interessie­rt sind, verlieren wir die Orientieru­ng.“Die Bürger würden statt simpler Sprüche „verantwort­bare und konstrukti­ve Ergebnisse“erwarten. Deutschlan­d sei wirtschaft­lich stark und stabil, der soziale Zusammenha­lt sei groß. Es gebe keinen Grund zum Pessimismu­s, auch vor Veränderun­gen müsse man keine Angst haben. Und so verspricht sie zum Abschluss ihrer durchaus kämpferisc­hen und selbstbewu­ssten Rede: „Deutschlan­d wird Deutschlan­d bleiben – mit allem, was uns daran lieb und teuer ist.“Die Opposition­sparteien hingegen üben massive Kritik am Zusagt stand der Großen Koalition und den internen Querelen zwischen CDU und CSU sowie zwischen Union und SPD. „Deutschlan­d wird nicht von Zuversicht regiert, Deutschlan­d wird von Angst regiert“, sagt Dietmar Bartsch, der Fraktionsc­hef der Linken. Die Große Koalition sei eine „Angstmache­rkoalition“. „Wo Haltung gefragt ist, verunsiche­rn Sie.“Insofern habe Horst Seehofer maßgeblich zum Aufstieg der AfD beigetrage­n. Die Koalition sei faktisch am Ende, „die drei Parteien arbeiten nicht mehr für das Land, sondern nur noch auf eigene Rechnung.“

So sieht es auch Katrin GöringEcka­rdt, die Fraktionsc­hefin der Grünen, die von einer „Koalition des Chaos“spricht, in der jeder gegen jeden kämpfe. „Das Vertrauen verspielen Sie doch selber“, wirft sie Merkel vor und erinnert daran, dass CDU/CSU kurz vor den Wahlen in Mecklenbur­g-Vorpommern drei verschiede­ne Konzepte zur Stärkung der inneren Sicherheit vorgelegt hätten, obwohl sie seit inzwischen elf Jahren selbst den Bundesinne­nminister stellten.

„Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns viel abverlangt wurde.“Angela Merkel

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