Mittelschwaebische Nachrichten
Jetzt kontert die Kanzlerin
Nach den Anfeindungen der letzten Tage meldet sich Angela Merkel zu Wort. In einer kämpferischen Rede verteidigt sie die Flüchtlingspolitik und appelliert an ihre Kritiker: „Jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen“
Berlin Eine gute Stunde lang rücken die Parteien eng zusammen, der politische Streit kommt mit einem Schlag zum Erliegen. Am Mittag unterbrechen die Abgeordneten des Bundestags ihre Haushaltsdebatte, die traditionell das Ende der parlamentarischen Sommerpause markiert – und damit auch den Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Gemeinsam fahren sie in Omnibussen zum Kammermusiksaal der Philharmonie. Dort findet der Staatsakt für den gestorbenen früheren Bundespräsidenten Walter Scheel statt. Über alle Parteigrenzen hinweg würdigen sie den früheren FDP-Chef, Außenminister und Bundespräsidenten als großen deutschen Staatsmann.
Dabei war Walter Scheel als aktiver Politiker einst so umstritten wie wenige andere, worauf auch Joachim Gauck, sein siebter Nachfolger im Amt des Staatsoberhauptes, in seiner Rede hinweist. In der eigenen Partei stieß der von Scheel betriebene Wechsel von der Union zur SPD nicht nur auf Zustimmung. Als Au- der sozialliberalen Koalition verantwortete er maßgeblich die neue Ostpolitik, gegen die damals die Oppositionsparteien CDU und CSU mit allen Bandagen kämpften und sogar vor das Bundesverfassungsgericht zogen.
Für Angela Merkel, die den Staatsakt schweigend verfolgt, mag es in diesen Tagen, da ihr der Wind heftig ins Gesicht bläst, ein Trost sein, dass es früher auch nicht besser war und Politiker in Regierungsverantwortung schon immer gegen heftige Widerstände anzukämpfen hatten. Was in den 70ern die Ostpolitik war, ist jetzt die Flüchtlingsfrage.
In der Generaldebatte am Morgen, dem Höhepunkt der viertägigen Haushaltsdebatte, zeigt sich die Bundeskanzlerin reichlich unbeeindruckt von der massiven Kritik, die vor allem aus den Reihen der Schwesterpartei CSU und des Koalitionspartners SPD kommt. Sie verteidigt ihren Kurs und verweist darauf, was seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor genau einem Jahr alles auf den Weg gebracht wurde. „Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns viel abverlangt wurde“, Merkel, „ein Jahr voller Entscheidungen“. Es sei gelungen, den Zustrom zu ordnen, zu regulieren und zu begrenzen. Mit Argumenten versucht Merkel, die zur schwarzen Hose einen roten Blazer trägt und somit schon rein optisch ein Bekenntnis zur Großen Koalition abgibt, ihren Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Die Situation ist heute um ein Vielfaches besser als vor einem Jahr“, sagt sie. Vieles habe man auf den Weg gebracht – „aber es bleibt noch viel zu tun“. Ausdrücklich verteidigt sie in diesem Zusammenhang auch das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. Dies sei nicht nur „in beiderseitigem Interesse“, sondern sogar „ein Modell für weitere Abkommen“.
Mit Blick auf die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern will Merkel nichts von einer Alleinschuld wissen. „Jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen“, sagt sie, die AfD sei „eine Herausforderung für uns alle in diesem Haus“. Auch bringe es nichts, nun die Wähler zu beschimpfen. „Politiker sollen sich in ihrer Sprache mäßigen“, apßenminister pelliert sie an die eigenen Parteifreunde, den Koalitionspartner und die Oppositionsparteien. „Wenn wir anfangen, uns sprachlich an jenen zu orientieren, die an Lösungen nicht interessiert sind, verlieren wir die Orientierung.“Die Bürger würden statt simpler Sprüche „verantwortbare und konstruktive Ergebnisse“erwarten. Deutschland sei wirtschaftlich stark und stabil, der soziale Zusammenhalt sei groß. Es gebe keinen Grund zum Pessimismus, auch vor Veränderungen müsse man keine Angst haben. Und so verspricht sie zum Abschluss ihrer durchaus kämpferischen und selbstbewussten Rede: „Deutschland wird Deutschland bleiben – mit allem, was uns daran lieb und teuer ist.“Die Oppositionsparteien hingegen üben massive Kritik am Zusagt stand der Großen Koalition und den internen Querelen zwischen CDU und CSU sowie zwischen Union und SPD. „Deutschland wird nicht von Zuversicht regiert, Deutschland wird von Angst regiert“, sagt Dietmar Bartsch, der Fraktionschef der Linken. Die Große Koalition sei eine „Angstmacherkoalition“. „Wo Haltung gefragt ist, verunsichern Sie.“Insofern habe Horst Seehofer maßgeblich zum Aufstieg der AfD beigetragen. Die Koalition sei faktisch am Ende, „die drei Parteien arbeiten nicht mehr für das Land, sondern nur noch auf eigene Rechnung.“
So sieht es auch Katrin GöringEckardt, die Fraktionschefin der Grünen, die von einer „Koalition des Chaos“spricht, in der jeder gegen jeden kämpfe. „Das Vertrauen verspielen Sie doch selber“, wirft sie Merkel vor und erinnert daran, dass CDU/CSU kurz vor den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern drei verschiedene Konzepte zur Stärkung der inneren Sicherheit vorgelegt hätten, obwohl sie seit inzwischen elf Jahren selbst den Bundesinnenminister stellten.
„Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns viel abverlangt wurde.“Angela Merkel