Mittelschwaebische Nachrichten
Ein bedeutsames Leben führen?
Was Wilhelm Genazino über diese unlösbare Aufgabe erzählt, ist ein schmerzhaftes Vergnügen
Eine von vielen Stellen, die einen dieses Mal in Leseglück stürzen: „Der Mensch ist ein löchriges Netz, durch das alles, was er hat, wieder hindurchfällt. Auf diese Weise entsteht das Problem der ewigen Suche.“Der Romantitel diesmal: „Außer uns spricht niemand über uns.“Neues Buch, aber alte Vertrautheiten. Was bedeutet: die ewige Ratlosigkeit angesichts der Zumutungen des Lebens, die Lust an der Selbsterforschung, die Seltsamkeit und gleichzeitige Tröstlichkeit des Alltags. Willkommen in der Welt von Wilhelm Genazino. Heißt: Unter 200 Seiten, wieder Frankfurt, ein intelligenter, akademisch sozialisierter, aber nicht vom Fleck kommender Lebensstreuner, der in labiler Beziehung mit einer Frau lebt, die praktischer veranlagt ist als er.
Wilhelm Genazino hatte also wieder die wie immer männliche Hauptrolle zu besetzen in seinem Romankosmos. Wir erlebten zuletzt einen promovierten Philosophen, der als Barkeeper und Nachtportier arbeitete („Bei Regen im Saal“), einen Architekten („Wenn wir Tiere wären“) und einen Philosophen, der eine Großwäscherei managt („Das Glück in glücksfernen Zeiten“). Diesmal ist es ein Schauspieler, der ab und zu für den Rundfunk Aufnahmen macht und Modenschauen moderiert, ansonsten aber ausgefüllt ist von der unlösbaren Aufgabe, „ein bedeutsames Leben zu führen“. Wie alle empfindsamen Protagonisten des Büchner-Preisträgers Genazino sagt auch der Schauspieler von sich: Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte. Ihm beim Problematisieren und Ausharren zusehen zu können, ist ein schmerzhaftes Vergnügen für Genazino-Leser. Denn der Ich-Erzähler, der sich unermüdlich selbst bewertet und erforscht, ist mit seiner aufschlussreichen Sicht auf die Zeichen der Zeit bei aller Melancholie im Scheitern doch vor allem ein hellsichtiger und unterhaltsamer Interpret unserer Lebensumstände. Der Schauspieler lebt in einer festen Beziehung zu Carola – auch wenn beide weiter ihre eigenen Wohnungen haben. Ihre Zweisamkeit ist irgendwo zwischen jugendlichem Überschwang und der Kompliziertheit angejahrter Beziehungen in einem labilen Gewohnheitszustand. Carola hält ihrem Freund immer wieder einmal ein „mehr und mehr vergammelndes Leben“ vor, während er selbst eher von einer „beginnenden zarten Verwahrlosung“spricht. Zentrales Motiv in diesem irgendwie „vertagten Leben“, dem der große Bogen und Zusammenhang fehlt, ist die Ratlosigkeit. Was machen im Leben, aus einem Leben, mit seinem Leben? „Zwischen den wenigen Ereignissen entstanden Zeitlöcher, an deren Rand ich verharrte und auf haltbarere Wirklichkeiten wartete.“
Wie sich Genazinos namenloser Antiheld mit diesen Existenz-Fragen und der „Vernutzung im Alltag“herumschlägt, wie seine Selbstbeobachtungen und Erinnerungen ihn ausfüllen und lähmen zugleich – das ist wie immer wundervoll leicht und vertrackt zugleich erzählt. Unerschöpflich scheint der Findungsreichtum dieses Autors zu sein, wenn es darum geht, solche inneren Zustände und Zeitempfindungen in Sätze zu fassen. „Dabei hatte ich es eigentlich gern, wenn die Stunden vor sich hinstotterten, weil sie etwas anderes als Stottern sowieso nicht zustande brachten.“– „Es wälzte sich der Tag auf die andere Seite seiner selbst wie einst meine unwillige Mutter auf dem Sofa.“
Der Flaneur, der nirgendwo ankommt, macht aus seiner Herumstreunerei einen brotlosen Königsweg. Genazino weiß um das Spiel der Wiederholung, das er zelebriert und lässt den Schauspieler sagen: „Ich stöhnte über die Überflüssigkeit meiner Reflexionen“. Aber was würde uns fehlen, wenn uns solche Sätze vorenthalten würden: „Gegenüber der verbreiteten Vorstellung, dass unsere Welt verständlich sei, fühlte ich in mir einen harten Kern, der auf Unverständnis beharrte.“Außer Genazino spricht niemand so zu uns.
Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Hanser, 160 Seiten, 18 Euro