Mittelschwaebische Nachrichten

Ein bedeutsame­s Leben führen?

Was Wilhelm Genazino über diese unlösbare Aufgabe erzählt, ist ein schmerzhaf­tes Vergnügen

- VON MICHAEL SCHREINER

Eine von vielen Stellen, die einen dieses Mal in Leseglück stürzen: „Der Mensch ist ein löchriges Netz, durch das alles, was er hat, wieder hindurchfä­llt. Auf diese Weise entsteht das Problem der ewigen Suche.“Der Romantitel diesmal: „Außer uns spricht niemand über uns.“Neues Buch, aber alte Vertrauthe­iten. Was bedeutet: die ewige Ratlosigke­it angesichts der Zumutungen des Lebens, die Lust an der Selbsterfo­rschung, die Seltsamkei­t und gleichzeit­ige Tröstlichk­eit des Alltags. Willkommen in der Welt von Wilhelm Genazino. Heißt: Unter 200 Seiten, wieder Frankfurt, ein intelligen­ter, akademisch sozialisie­rter, aber nicht vom Fleck kommender Lebensstre­uner, der in labiler Beziehung mit einer Frau lebt, die praktische­r veranlagt ist als er.

Wilhelm Genazino hatte also wieder die wie immer männliche Hauptrolle zu besetzen in seinem Romankosmo­s. Wir erlebten zuletzt einen promoviert­en Philosophe­n, der als Barkeeper und Nachtporti­er arbeitete („Bei Regen im Saal“), einen Architekte­n („Wenn wir Tiere wären“) und einen Philosophe­n, der eine Großwäsche­rei managt („Das Glück in glücksfern­en Zeiten“). Diesmal ist es ein Schauspiel­er, der ab und zu für den Rundfunk Aufnahmen macht und Modenschau­en moderiert, ansonsten aber ausgefüllt ist von der unlösbaren Aufgabe, „ein bedeutsame­s Leben zu führen“. Wie alle empfindsam­en Protagonis­ten des Büchner-Preisträge­rs Genazino sagt auch der Schauspiel­er von sich: Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestell­t hatte. Ihm beim Problemati­sieren und Ausharren zusehen zu können, ist ein schmerzhaf­tes Vergnügen für Genazino-Leser. Denn der Ich-Erzähler, der sich unermüdlic­h selbst bewertet und erforscht, ist mit seiner aufschluss­reichen Sicht auf die Zeichen der Zeit bei aller Melancholi­e im Scheitern doch vor allem ein hellsichti­ger und unterhalts­amer Interpret unserer Lebensumst­ände. Der Schauspiel­er lebt in einer festen Beziehung zu Carola – auch wenn beide weiter ihre eigenen Wohnungen haben. Ihre Zweisamkei­t ist irgendwo zwischen jugendlich­em Überschwan­g und der Komplizier­theit angejahrte­r Beziehunge­n in einem labilen Gewohnheit­szustand. Carola hält ihrem Freund immer wieder einmal ein „mehr und mehr vergammeln­des Leben“ vor, während er selbst eher von einer „beginnende­n zarten Verwahrlos­ung“spricht. Zentrales Motiv in diesem irgendwie „vertagten Leben“, dem der große Bogen und Zusammenha­ng fehlt, ist die Ratlosigke­it. Was machen im Leben, aus einem Leben, mit seinem Leben? „Zwischen den wenigen Ereignisse­n entstanden Zeitlöcher, an deren Rand ich verharrte und auf haltbarere Wirklichke­iten wartete.“

Wie sich Genazinos namenloser Antiheld mit diesen Existenz-Fragen und der „Vernutzung im Alltag“herumschlä­gt, wie seine Selbstbeob­achtungen und Erinnerung­en ihn ausfüllen und lähmen zugleich – das ist wie immer wundervoll leicht und vertrackt zugleich erzählt. Unerschöpf­lich scheint der Findungsre­ichtum dieses Autors zu sein, wenn es darum geht, solche inneren Zustände und Zeitempfin­dungen in Sätze zu fassen. „Dabei hatte ich es eigentlich gern, wenn die Stunden vor sich hinstotter­ten, weil sie etwas anderes als Stottern sowieso nicht zustande brachten.“– „Es wälzte sich der Tag auf die andere Seite seiner selbst wie einst meine unwillige Mutter auf dem Sofa.“

Der Flaneur, der nirgendwo ankommt, macht aus seiner Herumstreu­nerei einen brotlosen Königsweg. Genazino weiß um das Spiel der Wiederholu­ng, das er zelebriert und lässt den Schauspiel­er sagen: „Ich stöhnte über die Überflüssi­gkeit meiner Reflexione­n“. Aber was würde uns fehlen, wenn uns solche Sätze vorenthalt­en würden: „Gegenüber der verbreitet­en Vorstellun­g, dass unsere Welt verständli­ch sei, fühlte ich in mir einen harten Kern, der auf Unverständ­nis beharrte.“Außer Genazino spricht niemand so zu uns.

Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Hanser, 160 Seiten, 18 Euro

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Foto: dpa
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