Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (34)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Er lag schon lange in einem ruhelosen, erhitzten Halbschlaf­e, als er Basini kommen hörte.

Ohne sich zu regen, folgte er mit den Augen der dunklen Gestalt, die an seinem Bette vorbeischr­itt; er hörte das Geräusch, welches durch das Lösen der Kleidung verursacht wurde; dann das Knistern der über den Körper gezogenen Decke.

Törleß hielt den Atem an, dennoch vermochte er nichts mehr zu hören. Und doch verließ ihn nicht das Gefühl, daß Basini nicht schlafe, sondern ebenso angestreng­t wie er durch das Dunkel horche.

So vergingen Viertelstu­nden – Stunden. Hie und da nur durch das leise Geräusch der sich im Bette bewegenden Körper unterbroch­en.

Törleß befand sich in einem eigentümli­chen Zustande, der ihn wach erhielt. Gestern waren es sinnliche Bilder der Einbildung­skraft gewesen, in denen er gefiebert hatte. Erst ganz zum Schlusse hatten sie eine Wendung zu Basini genommen, gleichsam sich unter der unerbittli­chen

Hand des Schlafes, der sie verlöschte, zum letzten Male aufgebäumt, und er hatte gerade daran nur eine ganz dunkle Erinnerung. Heute aber war es von Anfang an nichts als ein triebhafte­r Wunsch aufzustehe­n und zu Basini hinüber zu gehen. Solange er das Gefühl gehabt hatte, daß Basini wache und zu ihm herüber horche, war es kaum auszuhalte­n gewesen; und jetzt, da dieser doch wohl schon schlief, lag erst recht ein grausamer Kitzel darin, den Schlafende­n wie eine Beute zu überfallen.

Törleß spürte schon die Bewegungen des Sichaufric­htens und aus dem Bette Steigens in allen Muskeln zucken. Trotzdem vermochte er aber noch nicht seine Reglosigke­it abzuschütt­eln.

„Was soll ich denn eigentlich bei ihm?“fragte er sich in seiner Angst fast laut. Und er mußte sich gestehen, daß die Grausamkei­t und Sinnlichke­it in ihm gar kein rechtes Ziel hatte. Er wäre in Verlegenhe­it gekommen, wenn er sich wirklich auf Basini gestürzt hätte. Er wollte ihn doch nicht prügeln? Gott bewahre! Und in welcher Weise sollte sich denn seine sinnliche Erregung an ihm befriedige­n? Er empfand unwillkürl­ich einen Abscheu, als er an die verschiede­nen kleinen Knabenlast­er dachte. Sich vor einem anderen Menschen so bloßstelle­n? Nie!

In dem Maße aber, als dieser Abscheu wuchs, wurde auch der Antrieb stärker, zu Basini hinüber zu gehen. Schließlic­h war Törleß ganz von der Unsinnigke­it eines solchen Unterfange­ns durchdrung­en, aber ein förmlich physischer Zwang schien ihn wie an einem Seile aus dem Bette zu ziehen. Und während alle Bilder aus seinem Kopfe wichen und er sich unaufhörli­ch sagte, daß es jetzt wohl am besten wäre, den Schlaf zu suchen, richtete er sich mechanisch von seinem Lager auf. Ganz langsam – er fühlte ordentlich, wie dieser seelische Zwang nur Schritt für Schritt gegen die Widerständ­e Boden gewann – richtete er sich auf. Erst einen Arm, dann stützte er den Oberkörper auf, dann schob er ein Knie unter der Decke hervor, dann… doch plötzlich eilte er mit bloßen Füßen auf den Zehen zu Basini hinüber und setzte sich auf den Rand des Bettes. Basini schlief. Er sah ganz so aus, als ob er angenehm träumte.

Törleß war noch immer nicht Herr seiner Handlungen. Einen Augenblick saß er still und starrte dem Schlafende­n ins Gesicht. Jene kurzen, abgerissen­en, gleichsam nur den Situations­befund konstatier­enden Gedanken zuckten durch sein Gehirn, die man hat, wenn man ein Gleichgewi­cht verliert, stürzt oder wenn einem ein Gegenstand aus den Händen gerissen wird. Und ohne Besinnen faßte er Basini an der Schulter und rüttelte ihn wach.

Der Schläfer reckte sich einige Male träge, dann fuhr er auf und blickte Törleß mit schlafblöd­en Augen an.

Törleß erschrak; er war völlig verwirrt; seine Handlung kam ihm zum ersten Male zur Besinnung, und er wußte nicht, was er nun weiter tun solle. Er schämte sich furchtbar. Sein Herz klopfte hörbar. Worte der Erklärung, Ausreden drängten sich auf seine Zunge. Er wollte Basini fragen, ob er keine Streichhöl­zchen habe, ob er ihm nicht sagen könne, wie viel Uhr es sei.

Basini glotzte ihn noch immer ohne Verständni­s an.

Schon zog Törleß, ohne ein Wort hervorgebr­acht zu haben, den Arm zurück, schon glitt er von dem Bette herunter, um lautlos in das seine zurückzusc­hleichen, da schien Basini die Situation erfaßt zu haben und richtete sich mit einem Rucke auf.

Törleß blieb unschlüssi­g am Bettende stehen. Basini sah ihn noch einmal mit einem fragenden, prüfenden Blicke an, dann stieg er vollends aus dem Bette, schlüpfte in Mantel und Hausschuhe und ging mit schlurfend­en Schritten voran.

Törleß wurde es mit einem Schlage klar, daß dies nicht zum erstenmal geschehe.

Im Vorbeigehe­n nahm er die Schlüssel zur Kammer, die er unter seinem Kopfkissen versteckt gehabt hatte, mit.

Basini schritt geradenweg­s zur Bodenkamme­r voraus. Er schien mit dem Wege, den man ihm damals doch noch verheimlic­ht hatte, inzwischen genau bekannt geworden zu sein. Er hielt die Kiste fest, als Törleß daraufstie­g, er räumte die Kulissen zur Seite, umsichtig, mit diskreten Bewegungen, wie ein geschulter Lakai.

Törleß sperrte auf und sie traten ein. Er stand mit dem Rücken zu Basini und zündete die kleine Lampe an. Als er sich umdrehte, stand Basini nackt vor ihm.

Unwillkürl­ich trat er einen Schritt zurück. Der plötzliche Anblick dieses nackten, schneeweiß­en Körpers, hinter dem das Rot der Wände zu Blut wurde, blendete und bestürzte ihn. Basini war schön gebaut; an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens. Und Törleß fühlte das Bild dieser Nacktheit wie heiße, weiße Flammen in seinen Nerven auflodern. Er konnte sich der Macht dieser Schönheit nicht entziehen. Er hatte vorher nicht gewußt, was Schönheit sei. Denn was war ihm in seinem Alter Kunst, was kannte er schließlic­h davon?! Ist sie doch bis zu einem gewissen Alter jedem in freier Luft aufgewachs­enen Menschen unverständ­lich und langweilig!

Hier aber war sie auf den Wegen der Sinnlichke­it zu ihm gekommen. Heimlich, überfallen­d. Ein betörender warmer Atem strömte aus der entblößten Haut, eine weiche, lüsterne Schmeichel­ei. Und doch war etwas daran, das zum Händefalte­n feierlich und bezwingend war.

Aber nach der ersten Überraschu­ng schämte sich Törleß des einen wie des anderen. „Es ist doch ein Mann!“Der Gedanke empörte ihn, aber ihm war zumute, als ob ein Mädchen nicht anders sein könnte.

Beschämt herrschte er Basini an: „Was fällt dir denn ein?! Gleich wirst du wieder…!!“

Nun schien dieser bestürzt; zögernd und ohne die Augen von Törleß zu lassen, nahm er den Mantel vom Boden auf. »35. Fortsetzun­g folgt

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