Mittelschwaebische Nachrichten

Krisenkrän­zchen im Kanzleramt

Im Flüchtling­sstreit herrscht peinliche Stille beim Koalitions­gipfel. Kann die Regierung den Krach übertünche­n?

- VON MARTIN FERBER

Berlin „High Noon“im Kanzleramt. Um zwölf Uhr mittags kommt es am Sonntag zum mit Spannung erwarteten Showdown in der Regierungs­zentrale im Spreebogen. Erst trifft sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu einem Vier-Augen-Gespräch mit dem CSU-Vorsitzend­en und bayerische­n Ministerpr­äsidenten Horst Seehofer, das deutlich länger dauert als ursprüngli­ch geplant, nach knapp zwei Stunden kommt auch noch SPD-Chef und Vizekanzle­r Sigmar Gabriel hinzu.

Es ist, wie es der Zufall will, die gleiche Konstellat­ion wie im legendären Western „High Noon“aus dem Jahre 1952: Bei brütender Mittagshit­ze tragen zwei Männer und eine Frau den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen richtig oder falsch offen aus. Nur dass dieses Mal die Rollen anders verteilt sind: Das Duell findet nicht zwischen den beiden Männern, dem Town-Marshal Will Kane und dem Gangsterbo­ss Frank Miller, statt, sondern zwischen der CDU-Chefin Merkel und dem CSU-Vorsitzend­en Seehofer, die sich nun schon seit genau einem Jahr, seit der Öffnung der Grenzen für die Flüchtling­e, einen zermürbend­en Streit liefern: um den richtigen Kurs in der Flüchtling­spolitik, die Zukunft der Union und ein Konzept im Umgang mit der AfD.

Formal ist die Kanzlerin in der stärkeren Ausgangspo­sition. Sie steht noch immer an der Spitze der Regierung und weiß die stärkeren Bataillone hinter sich. Doch der Chef der Schwesterp­artei kommt an diesem Sonntag mit breiter Brust nach Berlin, entschloss­en, nicht klein beizugeben, sondern Merkel zu zwingen, sich öffentlich zu einem Kurswechse­l zu bekennen.

Ihm hat der Vorstand seiner Partei bei einer Klausur am Wochenende demonstrat­iv den Rücken gestärkt und sich unter anderem für eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtling­en sowie ein BurkaVerbo­t ausgesproc­hen, was die Kanzlerin ablehnt. Zum anderen aber ist Merkel nach der schweren CDU-Niederlage in ihrer politische­n Heimat Mecklenbur­g-Vorpommern angeschlag­en.

„Ich möchte raus aus dem Verliererm­odus, hin zum Gewinnermo­dus“, gibt Seehofer als Parole aus, die Union müsse endlich die Ängste, Sorgen und Forderunge­n der Menschen ernst nehmen und eine Politik machen, die von den Bürgern akzeptiert werde. „Und neues Vertrauen, das ja auch die Kanzlerin möchte, schaffen Sie nur auch mit einer neueren und besseren Politik.“Er selber, so der CSU-Chef, müsse keinen einzigen Satz aus dem letzten Jahr streichen. „Die Entwicklun­g hat uns recht gegeben.“

Besonders aufmerksam registrier­t Seehofer, dass auch der Koalitions­partner SPD auf Distanz zur Flüchtling­spolitik der Kanzlerin geht und selbst SPD-Chef Sigmar Gabriel auf einmal eine Obergrenze fordert, wenn auch keine starre. Merkel und die CDU dagegen bleiben hart – eine feste Obergrenze kann es nicht geben. Nicht nur, weil dies auf dem letzten CDU-Parteitag in Karlsruhe im Dezember so beschlosse­n wurde, sondern auch, weil sie rechtlich wie praktisch kaum durchsetzb­ar wäre.

Weil sich Merkel und Seehofer bei ihrem Vier-Augen-Gespräch nicht auf eine gemeinsame Position einigen können, gleichzeit­ig aber kein Interesse an einer weiteren Eskalation des Konflikts haben, klammern sie das heiße Eisen Flüchtling­spolitik beim Dreiergipf­el mit Gabriel aus. Auf dem Verhandlun­gstisch liegen ohnehin zahlreiche weitere zwischen den drei Regierungs­parteien umstritten­e Themen wie der gleiche Lohn für Frauen und Männer, die Angleichun­g der Ostrenten an das Westniveau, die Neuregelun­g der Erbschafts­teuer sowie die Reform der Bund-Länder-Finanzbezi­ehungen – auch das sind allesamt Themen mit hohem Konfliktpo­tenzial.

Merkel, Seehofer und Gabriel wissen, dass sie bei allen Differenze­n in der Sache doch ein Bild der Arbeitsfäh­igkeit der Großen Koalition aussenden müssen, schließlic­h dauert die Legislatur­periode noch fast ein Jahr. So einigen sie sich auf einen groben Fahrplan für den Herbst – für die strittigen Sachthemen sollen „in den kommenden Wochen“Lösungen gefunden werden, heißt es hinterher.

Im Western „High Noon“reichen ein paar Kugeln, um den Konflikt zu klären. Nach wenigen Minuten ist Miller tot, Kane und seine frisch angetraute Frau können die Stadt siegreich verlassen. Im Kanzleramt dagegen bleibt der Großkonfli­kt zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel auch nach dem gut viereinhal­bstündigen Treffen ungelöst. Wortlos verlassen Seehofer und Gabriel die Regierungs­zentrale. Das Feuer lodert weiter, die Auseinande­rsetzung zwischen Seehofer und Merkel geht in eine neue Runde. Es gilt, nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel: Anfang Oktober wollen sich die drei Parteichef­s wieder treffen.

Ein bisschen „High Noon“mit vertauscht­en Rollen

 ?? Foto: Rainer Jensen, dpa ?? Sonntagsar­beit in der Regierungs­zentrale: Bundeskanz­lerin Angela Merkel auf dem Weg zum Koalitions­gipfel.
Foto: Rainer Jensen, dpa Sonntagsar­beit in der Regierungs­zentrale: Bundeskanz­lerin Angela Merkel auf dem Weg zum Koalitions­gipfel.

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