Mittelschwaebische Nachrichten
Wenn Frauen mal den Ton angeben
Gleichberechtigung Noch immer gilt: Je renommierter ein Orchester, desto seltener steht eine Dirigentin am Pult. Nur langsam dringen feminine Führungskräfte in die Männerdomäne ein. Das Festival Luzern hält den Finger in die Wunde
Luzern Liebe Leser, zählen Sie doch mal zehn Dirigentinnen namentlich auf!
Zu schwer? Gut möglich, selbst für Kenner der Szene. Mit hoher Wahrscheinlichkeit fallen dem durchschnittlich Gebildeten wohl eher zehn Bildende Künstlerinnen unserer Tage ein als zehn Dirigentinnen. Selbst wenn die Frage auf zehn Namen von Dirigentinnen oder Komponistinnen erweitert würde, mithin die Antwortmöglichkeiten erweitert wären, bliebe es noch für viele eine harte Nuss.
Worauf diese Wissensfrage hinauslaufen soll, ist klar: Noch immer ist die „ernste“Musik an ihrer Spitze und deren Umgebung (Veranstalter, Manager, Agenten) eine Männerdomäne. Während in der Bildenden Kunst die Frauen in den vergangenen Jahren viel Einfluss gewannen – stark bei den praktizierenden Künstlerinnen, ganz stark bei den Museumsdirektorinnen –, blieb die Führungsebene der E-Musik, abgesehen von Ausnahmen, in maskuliner Hand. Immerhin wird den Frauen nach mittlerweile selbstverständlicher Hochschulausbildung als Orchestermusiker eine (Minderheiten-)Position eingeräumt und als Instrumentalsolistin ein breites Feld. Die Positionen dort dürften bald genauso gefestigt sein wie in der Musikpädagogik – traditionell als eine „weibliche“, weil „soziale“Aufgabe angesehen.
Wenn nun das Lucerne-Festival am Vierwaldstätter See unter dem Titel „PrimaDonna“seinen Fokus auf die Frau in der E-Musik richtete, dann war das ein überfälliger Vorstoß, den man derart dezidiert von einem so hochrepräsentativen Konzertfestival mit ersten Orchestern, ersten Dirigenten, ersten Solisten nicht erwartet. Natürlich mag es die arrivierten alten Pult- und PianoAutoritäten wie Barenboim, Blomstedt, Haitink, Pollini und Rattle nicht missen, aber es hat 2016 auch gezielt dreizehn Dirigentinnen eingeladen, an ihrer Spitze Marin Alsop, die mit 60 und Erfahrungen vor großen US-Orchestern eine (ziemlich junge) Nestorin unter den aktiven Dirigentinnen heute ist. Wenn noch Simone Young (ehemals Staatsoper Hamburg) und Julia Jones (Oper Wuppertal) nach Luzern gekommen wären, hätte man die Zahl 15 erreicht und noch zwei weitere Spitzendirigentinnen präsentieren können – zusammen mit Mirga Grazinyte-Tyla, die dieser Tage die Nachfolge von Rattle und Nelsons beim City of Birmingham Orchestra antritt, und Susanna Mälkki, künftig Helsinki Philharmonic.
Letztere spricht offen von einem ehedem „hohen Maß an Widerstand gegen Dirigentinnen“, während Kolleginnen von ihr (freundlicherweise?, nachsichtigerweise?) auch davon berichten, dass die Tätigkeit des Dirigierens früher einfach nicht als „Möglichkeit“für Frauen betrachtet wurde.
Eine, die dies sagt, ist Emmanuelle Haïm. Sie erklärt, dass sie einst auch deswegen nicht zum Dirigieren ermuntert worden sei, „weil es niemandem einfiel“. Mittlerweile aber stand sie als Cembalistin und Barock-Expertin schon längst den Berliner Philharmonikern vor – und befehligte jetzt in Luzern gar die Wiener Philharmoniker, dieses bis 1997 eingeschworene Männerorchester. Haïm, Jahrgang 1962, ist erst die dritte Frau, die von dem Luxus-Liner ans Pult gelassen wurde – nach Carmen Studer-Weingartner (erstaunlicherweise schon 1935 bei den Salzburger Festspielen) und Simone Young (2005 in Wien). Nach wie vor gilt eben die Faustregel: Je renommierter ein Orchester, desto seltener erhalten Frauen eine Chance auf dem Pult.
Nun aber sind die Wiener in einem der weltweit besten und schönsten modernen Konzertsäle (dessen Bühne übrigens noch unter dem Wasserspiegel des Vierwaldstätter Sees liegt) gleich doppelt über ihren Schatten gesprungen: Als Spezialistin dirigierte Haïm voller Verve, Drive, ja Swing einen reinen Händel-Abend! Was für eine Rari- tät! Seit Harnoncourts Auftreten, seit Karajans Tod hatte man Alte Musik den historisch informierten Spezialensembles überlassen – die ganze Barockmusik wurde wie ein Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Seit wenigen Jahren scheint das Pendel wieder in die andere Richtung zu schlagen – mal hören, ob nun auch die kleineren Orchester wieder verstärkt die Orchestermusik von Bach & Co. praktizieren!
Natürlich wurden in Luzern zweckmäßige Kompromisse eingegangen: etwa Ventil- statt Naturhörner in Händels „Wassermusik“-Suiten, etwa eine Sopranistin (die quecksilbrige Sandrine Piau) statt eines Countertenors in der Kantate „Delirio amoroso“. Aber nun wird Händels Orchestermusik wieder aufgeführt und ein federnddelikater, filigran-raffinierter Ensembleklang nicht mehr als dünnes, blutleeres „Fiepen“abgetan. Die Zeiten ändern sich also doppelt.
Aber hinsichtlich der Frau auf dem Pult steht der wirklich entscheidende Punkt noch bevor. Haïm beschreibt ihn so: „Eine Frau als Dirigentin zu haben, die schwarz ist, älter, nicht hübsch. Wenn das passiert ist, dann hat sich die Gesellschaft wirklich weiterentwickelt.“Und Barbara Hannigan, diese wunderbare Sängerin und Dirigentin, stößt ins selbe Horn: „Echte Musiker respektieren echte Musiker. Mehr nicht. Punkt. Mit Frau oder Mann hat das heute nichts zu tun.“