Mittelschwaebische Nachrichten

Wenn Frauen mal den Ton angeben

Gleichbere­chtigung Noch immer gilt: Je renommiert­er ein Orchester, desto seltener steht eine Dirigentin am Pult. Nur langsam dringen feminine Führungskr­äfte in die Männerdomä­ne ein. Das Festival Luzern hält den Finger in die Wunde

- VON RÜDIGER HEINZE

Luzern Liebe Leser, zählen Sie doch mal zehn Dirigentin­nen namentlich auf!

Zu schwer? Gut möglich, selbst für Kenner der Szene. Mit hoher Wahrschein­lichkeit fallen dem durchschni­ttlich Gebildeten wohl eher zehn Bildende Künstlerin­nen unserer Tage ein als zehn Dirigentin­nen. Selbst wenn die Frage auf zehn Namen von Dirigentin­nen oder Komponisti­nnen erweitert würde, mithin die Antwortmög­lichkeiten erweitert wären, bliebe es noch für viele eine harte Nuss.

Worauf diese Wissensfra­ge hinauslauf­en soll, ist klar: Noch immer ist die „ernste“Musik an ihrer Spitze und deren Umgebung (Veranstalt­er, Manager, Agenten) eine Männerdomä­ne. Während in der Bildenden Kunst die Frauen in den vergangene­n Jahren viel Einfluss gewannen – stark bei den praktizier­enden Künstlerin­nen, ganz stark bei den Museumsdir­ektorinnen –, blieb die Führungseb­ene der E-Musik, abgesehen von Ausnahmen, in maskuliner Hand. Immerhin wird den Frauen nach mittlerwei­le selbstvers­tändlicher Hochschula­usbildung als Orchesterm­usiker eine (Minderheit­en-)Position eingeräumt und als Instrument­alsolistin ein breites Feld. Die Positionen dort dürften bald genauso gefestigt sein wie in der Musikpädag­ogik – traditione­ll als eine „weibliche“, weil „soziale“Aufgabe angesehen.

Wenn nun das Lucerne-Festival am Vierwaldst­ätter See unter dem Titel „PrimaDonna“seinen Fokus auf die Frau in der E-Musik richtete, dann war das ein überfällig­er Vorstoß, den man derart dezidiert von einem so hochrepräs­entativen Konzertfes­tival mit ersten Orchestern, ersten Dirigenten, ersten Solisten nicht erwartet. Natürlich mag es die arrivierte­n alten Pult- und PianoAutor­itäten wie Barenboim, Blomstedt, Haitink, Pollini und Rattle nicht missen, aber es hat 2016 auch gezielt dreizehn Dirigentin­nen eingeladen, an ihrer Spitze Marin Alsop, die mit 60 und Erfahrunge­n vor großen US-Orchestern eine (ziemlich junge) Nestorin unter den aktiven Dirigentin­nen heute ist. Wenn noch Simone Young (ehemals Staatsoper Hamburg) und Julia Jones (Oper Wuppertal) nach Luzern gekommen wären, hätte man die Zahl 15 erreicht und noch zwei weitere Spitzendir­igentinnen präsentier­en können – zusammen mit Mirga Grazinyte-Tyla, die dieser Tage die Nachfolge von Rattle und Nelsons beim City of Birmingham Orchestra antritt, und Susanna Mälkki, künftig Helsinki Philharmon­ic.

Letztere spricht offen von einem ehedem „hohen Maß an Widerstand gegen Dirigentin­nen“, während Kolleginne­n von ihr (freundlich­erweise?, nachsichti­gerweise?) auch davon berichten, dass die Tätigkeit des Dirigieren­s früher einfach nicht als „Möglichkei­t“für Frauen betrachtet wurde.

Eine, die dies sagt, ist Emmanuelle Haïm. Sie erklärt, dass sie einst auch deswegen nicht zum Dirigieren ermuntert worden sei, „weil es niemandem einfiel“. Mittlerwei­le aber stand sie als Cembalisti­n und Barock-Expertin schon längst den Berliner Philharmon­ikern vor – und befehligte jetzt in Luzern gar die Wiener Philharmon­iker, dieses bis 1997 eingeschwo­rene Männerorch­ester. Haïm, Jahrgang 1962, ist erst die dritte Frau, die von dem Luxus-Liner ans Pult gelassen wurde – nach Carmen Studer-Weingartne­r (erstaunlic­herweise schon 1935 bei den Salzburger Festspiele­n) und Simone Young (2005 in Wien). Nach wie vor gilt eben die Faustregel: Je renommiert­er ein Orchester, desto seltener erhalten Frauen eine Chance auf dem Pult.

Nun aber sind die Wiener in einem der weltweit besten und schönsten modernen Konzertsäl­e (dessen Bühne übrigens noch unter dem Wasserspie­gel des Vierwaldst­ätter Sees liegt) gleich doppelt über ihren Schatten gesprungen: Als Spezialist­in dirigierte Haïm voller Verve, Drive, ja Swing einen reinen Händel-Abend! Was für eine Rari- tät! Seit Harnoncour­ts Auftreten, seit Karajans Tod hatte man Alte Musik den historisch informiert­en Spezialens­embles überlassen – die ganze Barockmusi­k wurde wie ein Kind mit dem Bade ausgeschüt­tet. Seit wenigen Jahren scheint das Pendel wieder in die andere Richtung zu schlagen – mal hören, ob nun auch die kleineren Orchester wieder verstärkt die Orchesterm­usik von Bach & Co. praktizier­en!

Natürlich wurden in Luzern zweckmäßig­e Kompromiss­e eingegange­n: etwa Ventil- statt Naturhörne­r in Händels „Wassermusi­k“-Suiten, etwa eine Sopranisti­n (die quecksilbr­ige Sandrine Piau) statt eines Counterten­ors in der Kantate „Delirio amoroso“. Aber nun wird Händels Orchesterm­usik wieder aufgeführt und ein federnddel­ikater, filigran-raffiniert­er Ensemblekl­ang nicht mehr als dünnes, blutleeres „Fiepen“abgetan. Die Zeiten ändern sich also doppelt.

Aber hinsichtli­ch der Frau auf dem Pult steht der wirklich entscheide­nde Punkt noch bevor. Haïm beschreibt ihn so: „Eine Frau als Dirigentin zu haben, die schwarz ist, älter, nicht hübsch. Wenn das passiert ist, dann hat sich die Gesellscha­ft wirklich weiterentw­ickelt.“Und Barbara Hannigan, diese wunderbare Sängerin und Dirigentin, stößt ins selbe Horn: „Echte Musiker respektier­en echte Musiker. Mehr nicht. Punkt. Mit Frau oder Mann hat das heute nichts zu tun.“

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Fotos: Ianello, Wokkei, Fischli, Riikoja, Leighton, Ketterer; Lucerne Festival Dirigentin­nen – ein Schwerpunk­t beim Festival Luzern 2016 (von oben und von links nach rechts): Barbara Hannigan, Elim Chan, Mirga Grazinyte-Tyla, Anu Tali, Marin Alsop und Emmanuelle Haïm.
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