Mittelschwaebische Nachrichten
Wenn die Flucht im Gefängnis endet
Asyl In Mühldorf am Inn sitzen Männer und Frauen hinter Gittern – nicht, weil sie ein Verbrechen begangen haben. Hier warten Asylbewerber auf ihre Abschiebung. Ein Besuch in der Haftanstalt der Hoffnungslosen
„Hier in Mühldorf freut sich niemand auf seine Entlassung.“Hans Jürgen Luginger „Manche wollen einfach über die Familie sprechen.“Ann-Christin Grünloh
Mühldorf am Inn An jeder Tür klimpert der Schlüsselbund von Hans Jürgen Luginger. Der 57-Jährige führt durch das Treppenhaus, nach oben in den dritten Stock. Immer wieder greift er nach dem Schlüssel, sperrt die Türen auf und gleich wieder zu – so wie es in einem Gefängnis üblich ist. Doch Luginger ist nicht der Leiter einer gewöhnlichen Justizvollzugsanstalt. Seit Ende 2013 sind er und 43 Mitarbeiter in Mühldorf am Inn für Ausländer zuständig, die abgeschoben werden. Was den Unterschied ausmacht? Luginger überlegt nicht lange: „Hier freut sich niemand auf seine Entlassung.“21 Männer und eine Frau sitzen derzeit in der JVA, für 82 ist Platz.
Abschiebehaft ist so etwas wie das letzte Mittel für die Behörden. In der JVA Mühldorf landen nur abgelehnte Asylbewerber, die ihre Ausreise verweigern oder wenn Fluchtgefahr besteht, betont man beim Innenministerium. In der Regel haben Migranten, deren Asylantrag abgelehnt wurde, 30 Tage Zeit, um das Land freiwillig zu verlassen. Tun sie das nicht, holt sie die Polizei ab – unangekündigt. Doch nicht alle landen deswegen im Gefängnis. Nur, wenn die Polizisten mehrmals vor verschlossener Tür stehen oder mitbekommen, dass der Flüchtling sich abgesetzt hat, wird er zur Fahndung ausgeschrieben. Ein Amtsrichter ordnet dann die Inhaftierung an.
Damit muss sich Luginger nicht herumschlagen. Er ist für die „Sicherung der Insassen“zuständig, wie es im Beamtendeutsch heißt. Luginger sitzt im Kirchenraum, einem spärlich eingerichteten Zimmer mit Gittern an den Fenstern. Die JVA in Mühldorf ist momentan die einzige Einrichtung für Abschiebungshaft in Bayern, erklärt der Anstaltsleiter. Und eine Übergangslösung, bis das Gefängnis im oberbayerischen Eichstätt fertig umgebaut ist. Nötig sind diese Einrichtungen, weil der Europäische Gerichtshof geurteilt hat, dass Abschiebehäftlinge getrennt von Strafgefangenen untergebracht sein müssen. Schließlich sitzen sie nicht in Haft, weil sie Straftaten begangen haben. Es geht darum, die Abschiebung sicherzustellen, betont man beim Justizministerium.
Luginger öffnet die schwere Tür zum Haftzellentrakt für Männer. „Abschiebehäftlinge haben mehr Freiheiten und Freizeitmöglichkeiten“, erklärt er. In der früheren Arbeitshalle stehen Kicker, Tischtennisplatten und Fitnessgeräte. Sicherer als in einem normalen Gefängnis ist seine Arbeit aber nicht, sagt der erfahrene Vollzugsbeamte. Denn früher wusste er, wessen Zelle er betritt, heute kennt er kaum noch die Geschichte der Häftlinge.
Es sind vor allem junge Männer, die hier auf ihre Abschiebung warten. 2015 waren knapp die Hälfte 21 und 29 Jahre alt, vor allem Kosovaren, Albaner und Marokkaner. Derzeit warten vermehrt Afghanen auf ihre Abschiebung.
Ein Jahr Flüchtlingskrise – das bedeutet eine fast ebenso lang Diskussion darüber, wie schnell jene Migranten ausreisen müssen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Zu wenig konsequent und viel zu langsam werde abgeschoben, zu viele Flüchtlinge könnten sich der Ausreise entziehen, lauteten die Vorwürfe. Spätestens mit der Kölner Silvesternacht, als Männer vor allem aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum Frauen begrapschten, wurden die Rufe nach einer schnelleren Abschiebung ausländischer Straftäter lauter. Auch der Attentäter von Ansbach war aufgefordert worden, das Land zu verlassen – nur, er tat es nicht.
Immer wieder gibt es Probleme bei Abschiebungen. Manche legen Einspruch ein, das Verfahren kann sich dann über Monate hinziehen. Andere tauchen kurz vor dem Termin unter oder legen ärztliche Atteste vor, wonach sie reiseunfähig sind. In manchen Fällen gibt es Probleme mit den Herkunftsländern, etwa wenn es darum geht, Ersatzpapiere auszustellen. Zudem sind Abschiebungen Ländersache – zuständig sind die jeweiligen Ausländerbehörden. Nicht alle Bundesländer handeln gleich konsequent.
Bayern liegt bei der Zahl der Abschiebungen an zweiter Stelle nach Nordrhein-Westfalen. Im vergangenen Jahr wurden 4195 Flüchtlinge ausgewiesen, in diesem Jahr waren es bislang 2400. Die Zahl dürfte steigen. So plant Innenminister Joachim Herrmann, Flüchtlinge schon bei geringen Straftaten des Landes zu verweisen. Die Abschiebung in Krisengebiete, selbst nach Afghanistan, dürfe kein Tabu mehr sein, sagt der CSU-Minister. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat als Reaktion auf die Anschläge von Würzburg und Ansbach ein Sicherheitspaket vorgelegt. Ein Punkt: Straffällige Ausländer und ausländische Gefährder sollen im Schnellverfahren ausgewiesen werden. Selbst Kanzlerin Angela Merkel deutet einen Kurswechsel in ihrer Flüchtlingspolitik an, wenn sie „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“die wichtigste Aufgabe der kommenden Monate nennt.
In Mühldorf am Inn dürften die Insassen solche Worte nicht gern hören. Denn der Weg zurück in die Heimat ist wohl das Letzte, was sie sich wünschen. Gut möglich, dass diese Aussicht manche zu Verzweiflungstaten treibt. Im April hat ein Afghane dort seine Zelle angezünzwischen det. Ob er damit seine Abschiebung verhindern oder sich selbst umbringen wollte, darüber will man hier nicht spekulieren. Inzwischen wurde der Mann abgeschoben. In der JVA renovieren Handwerker gerade das Stockwerk, auf dem der Vorfall passiert ist. Die Zellen bleiben deswegen verschlossen, erklärt Luginger – obwohl sich die Insassen sonst tagsüber frei bewegen könnten.
Es braucht einiges an Überzeugungskraft, bis die Gefängnisleitung bereit ist, an diesem Tag eine Einzelzelle zu öffnen. Ein Mann aus Mosambik begrüßt uns mit einem freundlichen Lächeln. Fragen gäbe es viele: Etwa, warum der Mann aus der Heimat geflohen ist? Wie lange er schon hier ist? Was ihn nach seiner Rückkehr in der Heimat erwartet? Zum Gespräch kommt es nicht, die Gefängnisleitung fürchtet, ein Interview könnte zu aufreibend für ihn sein. Man ahnt, dass die Tage hier lang sein können. In der Zelle gibt es einen Fernseher. Persönliche Dinge sind dagegen kaum zu sehen – nur eine Bibel auf dem Tisch, ein Bild der Mutter Maria und drei Rosenkränze. Der Mann verabschiedet sich mit einem festen Händedruck und sagt etwas Unverständliches.
Die alltägliche Kommunikation im Gefängnis funktioniert, versichert Luginger. Einige der Insassen sind schon einige Zeit im Land und könnten ein paar Worte Deutsch. Reicht das nicht, hilft die Flut an Zetteln im Haftzellentrakt. In acht Sprachen ist auf einer Tafel „Wäschetausch“übersetzt, Bilder zeigen, wie das Ganze abzulaufen hat. So wissen die Insassen: Jeden Dienstag um halb zehn gibt es frische Wäsche, montags um ein Uhr Zahnpasta und Rasierschaum. Und jeden Mittwoch um neun Uhr kommt der Arzt. Muss ein Gefangener ins Krankenhaus, bewachen ihn dort Polizisten. Telefoniert ein Häftling, ist ein Beamter mit im Raum. Zudem sind alle Mitarbeiter darauf geschult, frühzeitig zu erkennen, ob sich Insassen radikalisieren oder planen, sich das Leben zu nehmen, sagt Luginger. Auch könne nicht ausgeschlossen werden, dass Insassen Kontakte zu Kriminellen hätten. „Die Menschen werden hier gegen ihren Willen festgehalten. Sie nehmen einiges in Kauf, um rauszukommen.“Der Anstaltsleiter deutet auf ein schmales Fenster im Treppenhaus, das erst vor kurzem vergittert wurde – nachdem ein Mann versucht hatte auszubrechen.
Das Treppenhaus ist sauber und führt von den Männerhafträumen einen Stock tiefer zur Freizeithalle und zum Büro von Ann-Christin Grünloh. Sie ist eine der drei Sozialpädagoginnen, die sich täglich um die Gefangenen kümmert. Grünloh trägt keine Uniform, sie lächelt viel. Probleme hat die 26-Jährige ihrer eigenen Aussage nach nicht. Doch über den Vorfall im Februar will sie lieber nicht sprechen. Damals hatte ein Albaner, 21, ein Problem vorgetäuscht und auf diese Weise eine Vollzugsbeamtin in seine Zelle gelockt. Dort packte er die Frau am Genick und begrapschte sie. Vor Gericht sprach ein Kollege davon, dass sich vor allem Insassen aus Nordafrika und dem Kosovo sehr abwertend gegenüber Frauen verhielten. Der Albaner wurde wegen sexueller Nötigung und Körperverletzung zu anderthalb Jahren Haft verurteilt.
Grünloh sitzt am Schreibtisch, vor ihr eine Tasse Kaffee. „Ich erkläre den Menschen die Beschlüsse und warum sie hier sind“, erklärt sie. Die meisten seien sich darüber im Klaren, warum sie in Haft seien. Doch Einsicht zeigten nur die wenigsten. Dass einer ausfallend wird, komme dennoch selten vor. „Manche wollen einfach über die Familie in der Heimat sprechen.“
Rechtliche Unterstützung erhalten die Abschiebehäftlinge vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland. Ein Mitarbeiter prüft Haftbeschlüsse und Bescheide und vermittelt den Insassen Anwälte. Peter Fahlbusch ist einer von ihnen. Seit 2002 hat er mehr als 1000 Migranten bundesweit vertreten. Er behauptet: „60 Prozent saßen zu Unrecht in Haft.“Fahlbusch bemängelt, dass bei den Haftbeschlüssen immer wieder Form- und Inhaltsfehler gemacht würden. Und er kritisiert, dass nach wie vor Amtsrichter die Inhaftierung abgelehnter Asylbewerber anordnen. Diese seien zum einen überlastet, zum anderen häufig unerfahren auf diesem Gebiet. Daher fielen die Entscheidungen oft nach der Forderung der jeweiligen Ausländerbehörde. Ein Vorwurf, auf den man beim bayerischen Justizministerium nicht eingeht. Dort äußert man sich grundsätzlich nicht zu richterlichen Entscheidungen.
„Ich wünschte, man würde mit mehr Demut an die Sache rangehen“, sagt Fahlbusch. Ihn stört vor allem, dass Abschiebehäftlinge keine Pflichtverteidiger bekommen. „Man muss die Leute nicht besser oder schlechter behandeln. Aber wir haben halt Gesetze, an die wir uns halten müssen.“
Luginger führt über den Hof, der von meterhohen, stacheldrahtgesicherten Mauern umschlossen ist. 2015 saßen die Flüchtlinge im Schnitt 18 Tage in Mühldorf, erzählt er. Sein Funkgerät rauscht. Der Anstaltsleiter muss weg, ein Mann darf das Gefängnis verlassen. Vermutlich konnte ein Anwalt wie Fahlbusch erwirken, dass er in Freiheit auf seine Abschiebung wartet. Den meisten Häftlingen geht es anders: Sie werden von der Polizei abgeholt und nach München oder Frankfurt gebracht. Dort wartet ein Flugzeug darauf, sie wieder in ihre Heimat zu bringen.