Mittelschwaebische Nachrichten
Robert Musil – Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (37)
DDrei Internatsschüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenschaft, um den jüngeren Kameraden auf unterschiedliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg
a war das Geschehene als eine einfache Notwendigkeit, ruhig und ohne Verzerrung.
Törleß? Selbstbewußtsein lehnte sich in heller Verachtung selbst gegen die bloße Zumutung auf. Und doch schien ihm diese Auflehnung seines ganzen Wesens keine befriedigende Gewähr zu bieten. „Ja, ich würde mehr Charakter haben als er, ich würde solche Zumutungen nicht ertragen, aber ist dies auch von Belang? Ist es von Belang, daß ich aus Festigkeit, aus Anständigkeit, aus lauter Gründen, die mir jetzt ganz nebensächlich sind, anders handeln würde? Nein, nicht daran liegt’s, wie ich handeln würde, sondern daran, daß ich, wenn ich einmal wirklich so handelte wie Basini, ebensowenig Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie er. Dies ist das eigentliche: Mein Gefühl meiner selbst würde genau so einfach und von allem Fragwürdigen entfernt sein wie das seine.“
Dieser Gedanke, welcher in abgerissenen, übereinander greifenden,
immer wieder von vorne anfangenden Sätzen gedacht, der Verachtung für Basini einen ganz intimen, leisen, aber weit tiefer als Moral an das innerste Gleichgewicht rührenden Schmerz hinzufügte, kam von der Erinnerung an eine kurz vorher gehabte Empfindung, die Törleß nicht losließ. Als ihm nämlich durch Basini die möglicherweise von Reiting und Beineberg drohende Gefahr zur Kenntnis kam, war er einfach erschrocken. Einfach erschrocken, wie bei einem Überfall, und hatte ohne Überlegen blitzschnell nach Paraden und Deckungen gesucht. Das war nun im Augenblicke einer wirklichen Gefahr gewesen; und die Empfindung, die er dabei gehabt hatte, reizte ihn. Diese raschen, gedankenlosen Impulse. Er versuchte ganz vergebens sie wieder in sich auszulösen. Aber er wußte, daß sie der Gefahr augenblicks alles Sonderbare und Zweideutige benommen hatten.
Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen, die er vor einigen Wochen erst an derselben Stelle geahnt hatte. Damals, als er so eigens wegen der Kammer erschrocken war, die wie ein vergessenes Mittelalter abseits von dem warmen und hellen Leben der Lehrsäle lag, über Beineberg und Reiting, weil sie aus den Menschen, die sie dort waren, plötzlich etwas anderes, Düsteres, Blutgieriges, Personen in einem ganz anderen Leben geworden zu sein schienen. Damals war dies eine Verwandlung, ein Sprung für Törleß, als ob das Bild seiner Umgebung plötzlich in andere, aus hundertjährigem Schlafe erwachte Augen fiele.
Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen. Unaufhörlich wiederholte er sich dies. Und immer wieder versuchte er die Erinnerungen der beiden verschiedenen Empfindungen miteinander zu vergleichen.
Basini hatte sich mittlerweile längst aufgerichtet; er bemerkte den stieren, geistesabwesenden Blick seines Gefährten, leise nahm er seine Kleider auf und schlich sich davon.
Törleß sah es – wie durch einen Nebel hindurch – aber er ließ es wortlos geschehen.
Seine Aufmerksamkeit war ganz durch das Bestreben gefesselt, jenen Punkt in ihm wieder aufzufinden, wo plötzlich jener Wechsel in der innerlichen Perspektive stattgefunden hatte.
Aber so oft er in dessen Nähe kam, erging es ihm wie einem, der Nahes mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Erinnerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blickes begleiten. Und jedesmal beanspruchte dies gerade im entscheidenden Momente die Aufmerksamkeit für sich, die Tätigkeit des Vergleiches drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es gab einen kaum fühlbaren Ruck – und alles stand still.
Und immer wieder begann Törleß von neuem.
Dieser Prozeß von mechanischer Gleichmäßigkeit schläferte ihn in einen starren, wachen, eiskalten Schlaf, der ihn reglos an seinem Platze festhielt. Unbestimmt lange.
Erst ein Gedanke weckte Törleß auf wie die leise Berührung einer warmen Hand. Ein anscheinend so selbstverständlicher Gedanke, daß sich Törleß wunderte, nicht schon längst darauf verfallen zu sein.
Ein Gedanke, der gar nichts tat, als die eben gemachte Erfahrung registrieren: es kommt immer einfach, unverzerrt, in natürlichen, alltäglichen Proportionen, was von ferne so groß und geheimnisvoll aussieht. So als ob eine unsichtbare Grenze um den Menschen gezogen wäre. Was sich außerhalb vorbereitet und von ferne herannaht, ist wie ein nebliges Meer voll riesenhafter, wechselnder Gestalten; was an ihn herantritt, Handlung wird, an seinem Leben sich stößt, ist klar und klein, von menschlichen Dimensionen und menschlichen Linien. Und zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt, von ferne sieht, liegt wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze, in dem sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den Menschen einzugehen.
Und doch, so sehr dies seiner Erfahrung entsprach, beugte Törleß nachdenklich den Kopf.
„Ein sonderbarer Gedanke„ fühlte er.
Endlich lag er in seinem Bett. Er dachte an gar nichts mehr, denn das Denken fiel so schwer und war so fruchtlos. Was er über die Heimlichkeiten seiner Freunde erfahren hatte, zog ihm zwar durch den Sinn, aber so gleichgültig und leblos wie eine Nachricht, die man in einer fremden Zeitung liest.
Von Basini war nichts mehr zu hoffen. Freilich, sein Problem! Aber es war so fraglich und er so müde und so zerschlagen. Eine Täuschung vielleicht das Ganze.
Nur der Anblick Basinis, seiner nackten, leuchtenden Haut, duftete wie ein Fliederstrauch in das Dämmern der Empfindungen, das dem Schlafe vorausging. Sogar aller moralische Abscheu verlor sich. Schließlich schlief Törleß ein.
Kein Traum zog durch seine Ruhe. Aber eine unendlich angenehme Wärme breitete weiche Teppiche unter seinen Leib. Schließlich wachte er darüber auf. Und beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen. An seinem Bette saß Basini! Und mit rasender Behendigkeit löste dieser im nächsten Augenblicke das Hemd von seinem Leibe, schmiegte sich unter die Decke und preßte seinen nackten, zitternden Leib an Törleß an.
Kaum hatte sich Törleß in diesem Überfalle zurechtgefunden, als er Basini von sich stieß. „Was fällt dir denn ein?!“Doch Basini bettelte. „O, sei nicht wieder so! So wie du ist keiner. Sie verachten mich nicht so wie du; sie tun dies nur scheinbar, damit sie dann desto anders sein können. Aber du? Gerade du?! Du bist sogar jünger als ich, wenn du auch stärker bist; wir sind beide jünger als die anderen; du bist nicht so roh und prahlerisch wie sie; du bist sanft; ich liebe dich!“
„Was – was sagst du? Was soll ich mit dir? Geh – so geh doch weg!“ »38. Fortsetzung folgt