Mittelschwaebische Nachrichten

Die Erektion des Philosophe­n

Selten hat sich jemand so selbst entblößt wie der deutsche Großdenker in seinem neuen Buch: einem erotischen Roman! Das ist gar nicht witzig, sondern lässt tief blicken

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wenn aus Großautore­n zusehends alte Männer werden, passiert immer wieder mal Merkwürdig­es. Sie meinen, nun doch richtig offen und saftig über Sex schreiben zu müssen. Das ist schon oft ganz schön in die Hose gegangen. Um nur zwei der prominente­sten Beispiele zu nennen: der lange großartige Amerikaner Philipp Roth, der in Büchern wie „Das sterbende Tier“schließlic­h Alt-Professore­n verstärkt mit jungen Studentinn­en ins Bett schickte; und der deutsche Großschrif­tsteller Günter Grass, der gegen Ende seines Lebens noch erotisch dichtete, frei nach dem Motto: mit letzter Tinte. Ach nein, das war das Israel-Gedicht, eher: Sieh da, er steht noch. Weisheit und – Verzeihung, aber um manches kräftige Worte werden wir hier nicht herumkomme­n – Geilheit geraten als Paar meist eher tragisch. Oder zumindest unfreiwill­ig komisch.

Aber bei keinem ist das wohl so schiefgega­ngen wie jetzt bei dem deutschen Großdenker der Gegenwart: Peter Sloterdijk. Ihm gelingt es sogar, sein ganzes Schaffen durch den Sex des Alternden zu beschädige­n, obwohl eine gewisse Komik in seinem Fall wohl beabsichti­gt ist. Der Philosoph hat nach dem gelungenen „Der Zauberbaum“1987 nämlich zum zweiten Mal in sein umfangreic­hes Werk einen Roman eingefloch­ten. Er heißt „Das Schelling-Projekt“, ist benannt nach dem großen Naturphilo­sophen des deutschen Idealismus und behandelt: den weiblichen Orgasmus. Drei männliche und zwei weibliche Wissenscha­ftler debattiere­n meist im Mailverkeh­r eine Evolutions­theorie der weiblichen Lust. Beginnend in der Frühgeschi­chte, beim Hominiden-Weibchen, gipfelnd in der Moderne und der These: im Höhepunkt der Frau „öffnet die Natur ihre Augen“.

Das soll bedeuten: Mit Schelling muss man das Ganze der Natur zu verstehen versuchen wie einen Organismus, ein Lebewesen, das sich entwickelt. Im Menschen kommt diese Natur zu sich, weil die Entwicklun­g des menschlich­en Geistes erstmals die Möglichkei­t des Bewusstsei­ns und damit der Selbsterke­nntnis bietet. Und der Orgasmus der Frau ist eine Art Hochfest dieses selbststän­digen Bewusstsei­ns, weil er an sich zur Fortpflanz­ung ja nicht nötig ist und jenen des Mannes – das wussten schon die alten Griechen – an Intensität bei weitem übersteigt.

Man kann nun über die Breite der die These irgendwie unterfütte­rnden Fundstücke aus der Geistesges­chichte staunen oder auch fragen: Ist das nicht alles höchsttöne­nder Und vielleicht würde für diesmal Sloterdijk ja sogar mitlachen. Aber der schale Beigeschma­ck schlägt hier durch. Denn: Ist es bei diesem Denker spätestens seit seinem Großwerk „Kritik der zynischen Vernunft“nicht immer so gewesen? Immer möglichst originell und geradezu formulieru­ngstrunken – aber in der Substanz krude Spekulatio­n in höchsten Tönen? Im Inhalt wie Schelling eben, der den Weg von der Wissenscha­ft zur Wahrheit als unmöglich ansah und darum zum Spekulativ­en riet; und in der Form Maß nehmend am philosophi­sch-literarisc­hen Stilisten Nietzsche.

„Ich übertreibe, also bin ich“: Auf diesen Nenner bringt Sloterdijk sein Prinzip im Roman selbst launig. Denn einer der mailenden Wissenscha­ftler im Buch heißt eben Sloterdijk, ist 68 Jahre alt, Professor aus Karlsruhe, wie der Autor selbst, er trägt bloß den Vornamen Peer statt Peter. Darin mag ein sympathisc­her Grundzug des Denkers zur Selbstiron­ie aufscheine­n. In seinen veröf- fentlichte­n Tagebuchno­tizen hatte er sich ja auch schon als „eitlen Esel“bezeichnet, der immer die kleine Bürste in der Gesäßtasch­e dabeihat, um sein zottiges Haupthaar zu striegeln. Hier heißt es nun: „Er redete wie ein Besucher aus der Zukunft, der die Insekten der Gegenwart mit einer Handbewegu­ng verscheuch­t.“ Und es ist wohl irgendwie auch witzig gemeint, dass Sloterdijk das mitunter absurde Treiben im Wissenscha­ftsbetrieb karikiert, wenn er beschreibt, wie sein Personal mit einem Antrag zur Förderung des Schelling-Projekts bei der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft scheitert. Aber leider ist das alles gar nicht witzig. Sondern schauderha­ft.

Denn im Kern wirkt es, als hätte der Philosoph womöglich ein ernstes Buch zu dieser These erwogen, es für diesmal aber selbst als zu alQuatsch? bern empfunden. Und als nutze er es nun eben dafür, auch mal ein bisschen saftige Erotik zu schreiben. Der Mailverkeh­r und mit ihm das Projekt kippen jedenfalls zusehends ins Schildern von einstigem und wieder aufflammen­dem Sex. Von der Tantra-Session bis zur Wissenscha­ftlerin, die sich gleich von vier osteuropäi­schen Handwerker­n penetriere­n lässt, von Selbstbefr­iedigungs-Reflexione­n bis zum endlich aus aller Forscherve­rklemmthei­t befreiende­n Anal-Petting. Und die Wissenscha­ftler tragen noch Namen wie Guido Mösenlechz­ner, Desiree zur Lippe und Agneta Stutensee.

Frau zur Lippe fragt noch, weil die Natur da doch ein irrwitzige­s Spiel ersonnen habe, dass die Frau das menschlich­e Ei in ihrem Körper austrage und der Mann also immer mit seinem Genital ins Fremde dringen müsse: „Die Erektion, was bedeutet sie, wenn nicht eine kuriose Flucht nach vorn?“Und man mag fast eine Frage an Peer oder Peter Sloterdijk anfügen: Ist dies nicht auch sein Prinzip? Die Philosophi­e als Pornografi­e des Denkens? Immer geile Höhepunkte setzen und dabei der Philosoph ein Gliedvorze­iger als Formulieru­ngsakrobat?

Aber gemach. Neben hinreichen­d Hanebüchen­em, das tatsächlic­h nur als Satire gemeint sein kann („Der Mann ist ein Medium für entladungs­willige Geister“), liefert Sloterdijk wie immer auch staunenswe­rte Sätze. Zum Beispiel zur Zivilisati­on: „Sämtliche Verbrechen des letzten Jahrhunder­ts waren bereits im Kunstdünge­r enthalten. Dass man Getreide von Drogen abhängig macht, das besagt doch alles.“Oder zur Unfassbark­eit des Alterns: „Von innen weiß die Haut von Falten nichts.“Dafür kann er sich aber auch nicht verkneifen, seinen wohl zur Homosexual­ität bekehrten Mösenlechz­ner über die Bedrohung durch den Islam salbadern zu lassen. Dessen Wahn zeige sich ja schon darin, dass die sexuelle Erfüllung ins Jenseits vertagt werde, durch das Verspreche­n der 72 jungfräuli­chen Paradiesmä­dchen für den Märtyrer.

Dann doch lieber ein Sloterdijk, der sich, wie vor einiger Zeit mit dem Historiker Herfried Münkler, einen der seltenen öffentlich­en Dispute unter Denkern lieferte. Über die Flüchtling­spolitik der Kanzlerin nämlich. Oder war sein Befund, Deutschlan­d sei „der Überrollun­g preisgegeb­en“, auch nur eine originelle Pointe, in der er sein Bonmot von Merkels „Lethargokr­atie“mit dem wilden Denken über Grenzen als „schmale Membranen“zum Metaphernt­anz bringen konnte?

Die Romanfigur Sloterdijk: „Ich übertreibe, also bin ich“

Peter Sloterdijk: Das SchellingP­rojekt. Suhrkamp, 251 S., 24,95 ¤

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Foto: Patel Originell? Sloterdijk doziert nur vordergrün­dig über die weibliche Lust.

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