Mittelschwaebische Nachrichten
Es werde Dunkel!
aus: Günter Kunert, Abtötungsverfahren. Gedichte © 1980 Carl Hanser Verlag München Günter Kunert, geboren 1929 in der Berliner Chausseestraße neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof, auf dem heute Brecht begraben liegt, hat 1976 gegen die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR protestiert, wurde 1977 aus der SED ausgeschlossen und siedelte 1979 in die Bundesrepublik über. Daran zu erinnern, ist aller Ehren wert. Man kann die über 20 Lyrik-Bände des Dichters gewiss nicht über einen Kamm scheren, aber die anfänglich gefassten Hoffnungen sind längst einer nachdenklich-zweifelnden Lakonie, ja einer Verzweiflung über die als Fortschritt verkauften Machenschaften des Menschen gewichen.
Das „Abendgedicht“ist dem 1980 publizierten Band „Abtötungsverfahren“entnommen. Kunert greift darin einen privilegierten Topos der Romantik auf: die Nacht als Sphäre des Traums und der Poesie. Genauer, den Schwellenmoment der Dämmerung, in der sich die trennscharfe Wahrnehmung zusehends verliert und im Schattenreich des Unbestimmten neue Gewissheiten jenseits der eigenen Individualität aufsteigen.
Mit einem eher wohlig geseufzten „Ach“gleitet das Gedicht in einer Kette aus a-Lauten dorthin, wo es keinen sicheren Stand mehr gibt und der Glühfaden der aufklärerischen Vernunft verlöscht. Der Erde (und ihren Bewohnern) schwinden die Sinne im Überschreiten der Grenze vom wachen Bewusstsein zu Schlaf und Traum. In der Tageswelt haben die Toten kein Zuhause. Doch im Traum kommen sie zurück, frischen leise, „raschelnd“, die Erinnerungsbilder auf und mit ihnen das Vergangene und Verdrängte.
Kunerts Gedicht spielt in souveräner Leichtigkeit auf der Grenze von Wachen und Schlafen. Er mischt Vorvergangenheit („hatten“) und Gegenwart, erzeugt allein durch die Satzstellung Doppelsinnigkeiten und Irrealitäten. In einer wunderbaren Passage der vertauschten Möglichkeiten und Existenzen („wenn“, „oder“) öffnet das Ich dem berühmten Adelbert von Chamisso (1781 – 1838) die Tür zum Gedicht, dem nach Berlin ausgewanderten Emigranten der Französischen Revolution, dem Dichter des „Peter Schlemihl“; dieser ruiniert sein Leben, indem er dem Teufel seinen Schatten verkauft. Chamisso, der Emigrant, und Kunert, der Berliner Emigrant, werden im Schattenreich überblendet.
In den summierenden drei Schlusszeilen fallen die Distanzen zwischen Ich und Du und Wir. In einer Art sanften Dringlichkeit nimmt das Gedicht den Leser mit hinein in seine Sprachbewegung, in welcher der Tag zum Abend, das Bewusstsein zum Traum und das Ich zum „Niemand“wird. Wo alles mit allem verschmilzt, dort wartet das Glück.