Mittelschwaebische Nachrichten
Stuttgart 21 lässt tief blicken
Milliardenprojekt Auf Deutschlands größter Bahn-Baustelle geht einiges voran. Am Freitag ist Grundsteinlegung für den unterirdischen Bahnhof. Aber es gibt gewaltigen Ärger. Das hat mit dem Ministerpräsidenten zu tun, natürlich mit Geld und auch mit einige
Stuttgart Wadim Strangfeld schreit gegen den Lärm an. „Hier ist Handarbeit angesagt“, brüllt der 32-Jährige. Der Bauingenieur steht gerne dort, wo andere sich aus dem Staub machen. Im wahrsten Sinn, denn Staub ist hier überall. Schon kratzt er in der Kehle und trocknet die Augen. Dazu kommt die Abwärme des Motors, der den flinken RoboterArm eines Tunnel-Büffels antreibt. So nennen Fachleute das bizarre Gestänge auf Raupenketten, aus dessen Spritzdüsen unter Hochdruck ein Betonstrahl herausschießt. Die so entstehende dünne Wandung verhindert, dass das Berggeröll ins Rutschen kommt, während ein benachbartes Segment des Tunnels ins Gestein getrieben wird.
„Das wäre wie bei einem Sandberg, in den man ein Loch bohrt – das würde schnell zurieseln“, erklärt Strangfeld, während zwei Tunnelbauer die Arme des Eisentiers über die Ortsbrust steuern, wie das vorläufige Tunnelende unter Experten heißt. In wenigen Stunden werden die Arbeiter hier ihr Bohrwerk fortsetzen, Stahlgitter zum Abstützen einbauen und das mühsam fabrizierte Betonprovisorium wieder einreißen. Ein Schild an der Tunnelwand zeigt es an: 150 Meter sind es bis zum Tunnelausgang, der künftig in den Nordkopf des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs übergehen wird, durch den – nach derzeitigem Stand – Ende 2021 die ersten Züge rollen sollen.
Noch etwa 60 Meter tiefer im Berg entsteht das sogenannte Verzweigungsbauwerk, von dem Tunnel mit je zwei Gleisen in Richtung Feuerbach und nach Bad Cannstatt abgehen. Es tut sich einiges auf Deutschlands größter Bahn-Baustelle. Nahezu 20 der 59 Kilometer Tunnelstrecke in der Landeshauptstadt sind bereits gegraben oder mit großen Maschinen vorgetrieben, auf der Neubautrasse nach Ulm sind es nach Angaben der Bahn weitere 32 von 61 Tunnel-Kilometern.
Stuttgart 21 – welch ein Reizwort für so viele Menschen. Geldverschwendung, gefährlich für die Umwelt, vor allem für das Trinkwasser, so lautet noch heute die harsche Kritik der Gegner. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2010/2011, als viele Bäume gefällt wurden, gingen Zehntausende auf die Straße; die Polizei ging heftig gegen Demonstranten vor – rechtswidrig, wie ein Gericht vergangenen November entschied. Neben der Fukushima-Atomkatastrophe war dieses Projekt ein Grund dafür, dass die Grünen, die Stuttgart 21 damals ab- 2011 in Baden-Württemberg die Regierung übernahmen.
Inzwischen sind die Proteste leiser geworden, wenngleich noch immer jede Woche mitunter Hunderte auf ihrer Montagsdemo durch die Stadt ziehen. Eine Gruppe, die Parkschützer, plant auch für diesen Freitag eine Protestaktion, wenn der Grundstein für den Tiefbahnhof gelegt wird. Und wo wird Ministerpräsident Winfried Kretschmann dann sein, jener Mann, der sich inzwischen zähneknirschend mit dem Projekt arrangiert hat? Jedenfalls nicht dort. „Mein Termin am Freitag war längst vor der Anfrage der Bahn vereinbart“, begründet er seine Absage staatsmännisch.
Auch sein Parteifreund, Verkehrsminister Winfried Hermann, hat Bahnchef Rüdiger Grube einen Korb für die symbolträchtige Feier gegeben. Die Reihe der Absagen prominenter Grüner komplettiert Oberbürgermeister Fritz Kuhn, der lieber an der Sitzung einer Jury für ein Architekturprojekt teilnimmt. Selbst Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) und Thomas Strobl, der CDU-Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident, verzichten freiwillig.
Die Absage nähre Zweifel an einer positiven Einstellung der Grünen zum Bau des unterirdischen Bahnhofs, sagt der SPD-Oppositionschef im Landtag, Andreas Stoch. Kretschmann kontert: „Man sollte den Termin nicht überbewerten.“Durch die Volksabstimmung sei seine Regierung verpflichtet, Stuttgart 21 zu unterstützen. Punkt.
Die Querelen reihen sich ein in immer neue Hiobsbotschaften rund um das Milliardenprojekt. Die jüngste betrifft die Neubaustrecke Stuttgart – Ulm, die eigentlich gut im Zeit- und Kostenplan liegt. Doch bei Wendlingen bremsen an einem Tunnelportal einige hundert Eidechsen die Bagger. Da die Tiere demnächst ihren Winterschlaf antreten, können sie erst im Frühjahr eingefangen werden. Mit sieben Monaten gibt ein Projektsprecher die Verzögerung an, die Mehrkosten in Millionenhöhe seien noch nicht kalkuliert. Das Eisenbahnbundesamt hat die rechtzeitige Genehmigung zum Einsammeln der Reptilien verweigert, weil die Behörde auf der Ersatzfläche je Tier 150 Quadratmeter verlangt. Die Bahn konnte aber nur eine Fläche mit 100 Quadratmetern für jede der 500 erfassten Eidechsen vorweisen.
Gleich um 6000 Eidechsen geht es beim Bau eines Abstellbahnhofs im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim. Die Bahn braucht für die Umsiedlung der nur teilweise streng geschützten Reptilien 30 Hektar artgerechte Ausgleichsflächen. Im dicht besiedelten Südwesten hat das Unternehmen inzwischen 200 Standorte geprüft. „Nicht einer hat sich als geeignet erwiesen“, sagt ein Sprecher. Besonders absurd erscheint die Vorgabe, dass Flächen nicht genutzt werden dürfen, wo schon Eidechsen leben. So soll Verdrängung verhindert werden. Klar ist aber: Ohne eine Ausgleichsfläche braucht die Bahn den Antrag für den Abstellbahnhof erst gar nicht einzureichen. Dabei wollte man 2018 mit dem Bau beginnen.
Ob das nicht eine überzogene Form des Artenschutzes sei, wird Kretschmann gestern gefragt. Da wird der gelernte Biologe, der sonst gerne auf Bedürfnisse der Wirtschaft eingeht, grundsätzlich: „An die Regeln für den Artenschutz muss man sich halten und die Kosten dafür einplanen.“Die Eidechsen seien ja nicht vom Himmel gefallen. Diskutieren könne man allenfalls darüber, dass immer wieder einzellehnten, ne Tiere zum Hindernis für Infrastrukturprojekte werden. Kretschmann sagt: „Man muss prüfen, ob man das Ziel erreicht oder vielleicht an der falschen Stelle radikal ist.“
Tief unter der Erde hat Bauingenieur Strangfeld ganz anderes im Sinn. Etwa dreieinhalb Kilometer lang ist die Röhre nach Bad Cannstatt schon, „es fehlen noch 280 Meter“, sagt er. „Vermutlich haben wir noch dieses Jahr den Durchschlag“, schiebt er hinterher. Breites Lächeln verrät seine Freude. Strangfeld hat für diesen Tunnel seit dem Baubeginn vor mehr als zwei Jahren die Verantwortung. Er nennt sich einen „Mann fürs Grobe“, doch die Details des Bauplans sind ihm geläufig wie einer Köchin der Speiseplan.
120 Männer bauen an diesem Tunnel, in Schichten von 40 Mann rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche. „Ein Knochenjob“, sagt Wadim Strangfeld, „aber sehr gut bezahlt.“Nach zehn Tagen im Dunkeln haben die Bauprofis eine Woche frei von Lärm, Dreck, Staub, Schmutz und Gefahr.
Ein ferner Donner übertönt plötzlich die Geräusche der Bagger und lässt das Trommelfell vibrieren. „Eine Sprengung“, sagt Strangfeld in fragende Gesichter. Die Arbeit an Stuttgart 21, das wird hier klar, ist zurzeit vor allem eins: eine bergmännische Aufgabe, Maulwurfsarbeit. Das Projekt wächst unter Tage, den Augen der Öffentlichkeit entzogen, denn die Zugänge zu den Tunnelbaustellen sind aus Sicherheitsgründen mit Zäunen und Schlössern abgeschirmt.
So ist es auch am Rosensteinpark. Die schmalen Stufen einer Bautreppe führen zwölf Meter hinunter auf das Tunnelniveau. Hier schreitet der Innenausbau der Röhren in täglichen Zehn-Meter-Schritten voran. Vor einem 75 Meter langen Wagen bringen die Tunnelbauer die Gitter der stählernen Bewehrung ein, dann wird das Segment mit Beton ausgegossen. Der Wagen dringt wie ein Riesen-Krebs in die Röhre vor, die breit genug ist für einen ICE. Der Gegenverkehr rollt durch den Parallel-Tunnel. „Mitte 2019 sind die Tunnel von hier bis zum Hauptbahnhof komplett fertig“, sagt Strangfeld.
Dieser Abschnitt jedenfalls sollte den Fahrplan für die Eröffnung des Gesamtprojekts nicht gefährden. Ob das auch für die Reptilien-Problematik gilt, steht auf einem anderen Papier. „Es ist nie ausgeschlossen, dass man noch mehr findet“, sagt Naturschützerin Christine Fabricius vom BUND.
Für die Bahn als Bauherrin sind das keine schönen Aussichten. Auch im Streit um die ausufernden Kosten kommt der Konzernvorstand nicht voran. Wie ein Menetekel belasten die Spekulationen über weitere Kostensteigerungen das Projekt. Zuletzt hat es – unbestätigte – Berichte gegeben, wonach der Bundesrechnungshof davon ausgeht, dass der bisherige Rahmen von 6,5 Milliarden Euro allein für Stuttgart 21 trotz der großzügigen Risikopuffer gesprengt wird und am Ende bis zu zehn Milliarden Euro auflaufen. Diese Zahl hat auch das von den Projektgegnern eingeschaltete Münchner Büro Vieregg + Rössler mehrfach genannt. „Absolut nicht nachvollziehbar“nennt Bahn-Chef Grube eine solche Kalkulation. Hinzu kommen ja noch die 3,26 Milliarden für die Trasse nach Ulm.
Der Bahn-Aufsichtsrat hat bei den Wirtschaftsprüfern von KPMG ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Doch die Untersuchung verzögert sich. Wahrscheinlich erst zur Sitzung im Dezember stehen die Zahlen zur Verfügung. Bei den Partnern vor Ort, der Stadt Stuttgart und dem Land, hält derweil die Verärgerung an, weil man sich schlecht informiert fühlt. Minister Hermann macht zum Beispiel keinen Hehl daraus, dass er zu einer Feier an der Neubaustrecke gerne geht. Bei Terminen rund um den Bahnhof dagegen will er sich weiter fernhalten. So hat es übrigens auch Kretschmanns Frau Gerlinde gehalten. Die angetragene Patenschaft für einen Stuttgart-21-Tunnel hat die Landesmutter abgelehnt. Für den Albabstiegstunnel an der Neubaustrecke stand sie dagegen als Patin zur Verfügung. (mit dpa)
„Ein Knochenjob, aber sehr gut bezahlt.“Wadim Strangfeld, Bauingenieur