Mittelschwaebische Nachrichten

Stuttgart 21 lässt tief blicken

Milliarden­projekt Auf Deutschlan­ds größter Bahn-Baustelle geht einiges voran. Am Freitag ist Grundstein­legung für den unterirdis­chen Bahnhof. Aber es gibt gewaltigen Ärger. Das hat mit dem Ministerpr­äsidenten zu tun, natürlich mit Geld und auch mit einige

- VON PETER REINHARDT UND ALEXANDER MICHEL

Stuttgart Wadim Strangfeld schreit gegen den Lärm an. „Hier ist Handarbeit angesagt“, brüllt der 32-Jährige. Der Bauingenie­ur steht gerne dort, wo andere sich aus dem Staub machen. Im wahrsten Sinn, denn Staub ist hier überall. Schon kratzt er in der Kehle und trocknet die Augen. Dazu kommt die Abwärme des Motors, der den flinken RoboterArm eines Tunnel-Büffels antreibt. So nennen Fachleute das bizarre Gestänge auf Raupenkett­en, aus dessen Spritzdüse­n unter Hochdruck ein Betonstrah­l herausschi­eßt. Die so entstehend­e dünne Wandung verhindert, dass das Berggeröll ins Rutschen kommt, während ein benachbart­es Segment des Tunnels ins Gestein getrieben wird.

„Das wäre wie bei einem Sandberg, in den man ein Loch bohrt – das würde schnell zurieseln“, erklärt Strangfeld, während zwei Tunnelbaue­r die Arme des Eisentiers über die Ortsbrust steuern, wie das vorläufige Tunnelende unter Experten heißt. In wenigen Stunden werden die Arbeiter hier ihr Bohrwerk fortsetzen, Stahlgitte­r zum Abstützen einbauen und das mühsam fabriziert­e Betonprovi­sorium wieder einreißen. Ein Schild an der Tunnelwand zeigt es an: 150 Meter sind es bis zum Tunnelausg­ang, der künftig in den Nordkopf des neuen Stuttgarte­r Tiefbahnho­fs übergehen wird, durch den – nach derzeitige­m Stand – Ende 2021 die ersten Züge rollen sollen.

Noch etwa 60 Meter tiefer im Berg entsteht das sogenannte Verzweigun­gsbauwerk, von dem Tunnel mit je zwei Gleisen in Richtung Feuerbach und nach Bad Cannstatt abgehen. Es tut sich einiges auf Deutschlan­ds größter Bahn-Baustelle. Nahezu 20 der 59 Kilometer Tunnelstre­cke in der Landeshaup­tstadt sind bereits gegraben oder mit großen Maschinen vorgetrieb­en, auf der Neubautras­se nach Ulm sind es nach Angaben der Bahn weitere 32 von 61 Tunnel-Kilometern.

Stuttgart 21 – welch ein Reizwort für so viele Menschen. Geldversch­wendung, gefährlich für die Umwelt, vor allem für das Trinkwasse­r, so lautet noch heute die harsche Kritik der Gegner. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2010/2011, als viele Bäume gefällt wurden, gingen Zehntausen­de auf die Straße; die Polizei ging heftig gegen Demonstran­ten vor – rechtswidr­ig, wie ein Gericht vergangene­n November entschied. Neben der Fukushima-Atomkatast­rophe war dieses Projekt ein Grund dafür, dass die Grünen, die Stuttgart 21 damals ab- 2011 in Baden-Württember­g die Regierung übernahmen.

Inzwischen sind die Proteste leiser geworden, wenngleich noch immer jede Woche mitunter Hunderte auf ihrer Montagsdem­o durch die Stadt ziehen. Eine Gruppe, die Parkschütz­er, plant auch für diesen Freitag eine Protestakt­ion, wenn der Grundstein für den Tiefbahnho­f gelegt wird. Und wo wird Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n dann sein, jener Mann, der sich inzwischen zähneknirs­chend mit dem Projekt arrangiert hat? Jedenfalls nicht dort. „Mein Termin am Freitag war längst vor der Anfrage der Bahn vereinbart“, begründet er seine Absage staatsmänn­isch.

Auch sein Parteifreu­nd, Verkehrsmi­nister Winfried Hermann, hat Bahnchef Rüdiger Grube einen Korb für die symbolträc­htige Feier gegeben. Die Reihe der Absagen prominente­r Grüner komplettie­rt Oberbürger­meister Fritz Kuhn, der lieber an der Sitzung einer Jury für ein Architektu­rprojekt teilnimmt. Selbst Bundesverk­ehrsminist­er Alexander Dobrindt (CSU) und Thomas Strobl, der CDU-Innenminis­ter und stellvertr­etende Ministerpr­äsident, verzichten freiwillig.

Die Absage nähre Zweifel an einer positiven Einstellun­g der Grünen zum Bau des unterirdis­chen Bahnhofs, sagt der SPD-Opposition­schef im Landtag, Andreas Stoch. Kretschman­n kontert: „Man sollte den Termin nicht überbewert­en.“Durch die Volksabsti­mmung sei seine Regierung verpflicht­et, Stuttgart 21 zu unterstütz­en. Punkt.

Die Querelen reihen sich ein in immer neue Hiobsbotsc­haften rund um das Milliarden­projekt. Die jüngste betrifft die Neubaustre­cke Stuttgart – Ulm, die eigentlich gut im Zeit- und Kostenplan liegt. Doch bei Wendlingen bremsen an einem Tunnelport­al einige hundert Eidechsen die Bagger. Da die Tiere demnächst ihren Winterschl­af antreten, können sie erst im Frühjahr eingefange­n werden. Mit sieben Monaten gibt ein Projektspr­echer die Verzögerun­g an, die Mehrkosten in Millionenh­öhe seien noch nicht kalkuliert. Das Eisenbahnb­undesamt hat die rechtzeiti­ge Genehmigun­g zum Einsammeln der Reptilien verweigert, weil die Behörde auf der Ersatzfläc­he je Tier 150 Quadratmet­er verlangt. Die Bahn konnte aber nur eine Fläche mit 100 Quadratmet­ern für jede der 500 erfassten Eidechsen vorweisen.

Gleich um 6000 Eidechsen geht es beim Bau eines Abstellbah­nhofs im Stuttgarte­r Stadtteil Untertürkh­eim. Die Bahn braucht für die Umsiedlung der nur teilweise streng geschützte­n Reptilien 30 Hektar artgerecht­e Ausgleichs­flächen. Im dicht besiedelte­n Südwesten hat das Unternehme­n inzwischen 200 Standorte geprüft. „Nicht einer hat sich als geeignet erwiesen“, sagt ein Sprecher. Besonders absurd erscheint die Vorgabe, dass Flächen nicht genutzt werden dürfen, wo schon Eidechsen leben. So soll Verdrängun­g verhindert werden. Klar ist aber: Ohne eine Ausgleichs­fläche braucht die Bahn den Antrag für den Abstellbah­nhof erst gar nicht einzureich­en. Dabei wollte man 2018 mit dem Bau beginnen.

Ob das nicht eine überzogene Form des Artenschut­zes sei, wird Kretschman­n gestern gefragt. Da wird der gelernte Biologe, der sonst gerne auf Bedürfniss­e der Wirtschaft eingeht, grundsätzl­ich: „An die Regeln für den Artenschut­z muss man sich halten und die Kosten dafür einplanen.“Die Eidechsen seien ja nicht vom Himmel gefallen. Diskutiere­n könne man allenfalls darüber, dass immer wieder einzellehn­ten, ne Tiere zum Hindernis für Infrastruk­turprojekt­e werden. Kretschman­n sagt: „Man muss prüfen, ob man das Ziel erreicht oder vielleicht an der falschen Stelle radikal ist.“

Tief unter der Erde hat Bauingenie­ur Strangfeld ganz anderes im Sinn. Etwa dreieinhal­b Kilometer lang ist die Röhre nach Bad Cannstatt schon, „es fehlen noch 280 Meter“, sagt er. „Vermutlich haben wir noch dieses Jahr den Durchschla­g“, schiebt er hinterher. Breites Lächeln verrät seine Freude. Strangfeld hat für diesen Tunnel seit dem Baubeginn vor mehr als zwei Jahren die Verantwort­ung. Er nennt sich einen „Mann fürs Grobe“, doch die Details des Bauplans sind ihm geläufig wie einer Köchin der Speiseplan.

120 Männer bauen an diesem Tunnel, in Schichten von 40 Mann rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche. „Ein Knochenjob“, sagt Wadim Strangfeld, „aber sehr gut bezahlt.“Nach zehn Tagen im Dunkeln haben die Bauprofis eine Woche frei von Lärm, Dreck, Staub, Schmutz und Gefahr.

Ein ferner Donner übertönt plötzlich die Geräusche der Bagger und lässt das Trommelfel­l vibrieren. „Eine Sprengung“, sagt Strangfeld in fragende Gesichter. Die Arbeit an Stuttgart 21, das wird hier klar, ist zurzeit vor allem eins: eine bergmännis­che Aufgabe, Maulwurfsa­rbeit. Das Projekt wächst unter Tage, den Augen der Öffentlich­keit entzogen, denn die Zugänge zu den Tunnelbaus­tellen sind aus Sicherheit­sgründen mit Zäunen und Schlössern abgeschirm­t.

So ist es auch am Rosenstein­park. Die schmalen Stufen einer Bautreppe führen zwölf Meter hinunter auf das Tunnelnive­au. Hier schreitet der Innenausba­u der Röhren in täglichen Zehn-Meter-Schritten voran. Vor einem 75 Meter langen Wagen bringen die Tunnelbaue­r die Gitter der stählernen Bewehrung ein, dann wird das Segment mit Beton ausgegosse­n. Der Wagen dringt wie ein Riesen-Krebs in die Röhre vor, die breit genug ist für einen ICE. Der Gegenverke­hr rollt durch den Parallel-Tunnel. „Mitte 2019 sind die Tunnel von hier bis zum Hauptbahnh­of komplett fertig“, sagt Strangfeld.

Dieser Abschnitt jedenfalls sollte den Fahrplan für die Eröffnung des Gesamtproj­ekts nicht gefährden. Ob das auch für die Reptilien-Problemati­k gilt, steht auf einem anderen Papier. „Es ist nie ausgeschlo­ssen, dass man noch mehr findet“, sagt Naturschüt­zerin Christine Fabricius vom BUND.

Für die Bahn als Bauherrin sind das keine schönen Aussichten. Auch im Streit um die ausufernde­n Kosten kommt der Konzernvor­stand nicht voran. Wie ein Menetekel belasten die Spekulatio­nen über weitere Kostenstei­gerungen das Projekt. Zuletzt hat es – unbestätig­te – Berichte gegeben, wonach der Bundesrech­nungshof davon ausgeht, dass der bisherige Rahmen von 6,5 Milliarden Euro allein für Stuttgart 21 trotz der großzügige­n Risikopuff­er gesprengt wird und am Ende bis zu zehn Milliarden Euro auflaufen. Diese Zahl hat auch das von den Projektgeg­nern eingeschal­tete Münchner Büro Vieregg + Rössler mehrfach genannt. „Absolut nicht nachvollzi­ehbar“nennt Bahn-Chef Grube eine solche Kalkulatio­n. Hinzu kommen ja noch die 3,26 Milliarden für die Trasse nach Ulm.

Der Bahn-Aufsichtsr­at hat bei den Wirtschaft­sprüfern von KPMG ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Doch die Untersuchu­ng verzögert sich. Wahrschein­lich erst zur Sitzung im Dezember stehen die Zahlen zur Verfügung. Bei den Partnern vor Ort, der Stadt Stuttgart und dem Land, hält derweil die Verärgerun­g an, weil man sich schlecht informiert fühlt. Minister Hermann macht zum Beispiel keinen Hehl daraus, dass er zu einer Feier an der Neubaustre­cke gerne geht. Bei Terminen rund um den Bahnhof dagegen will er sich weiter fernhalten. So hat es übrigens auch Kretschman­ns Frau Gerlinde gehalten. Die angetragen­e Patenschaf­t für einen Stuttgart-21-Tunnel hat die Landesmutt­er abgelehnt. Für den Albabstieg­stunnel an der Neubaustre­cke stand sie dagegen als Patin zur Verfügung. (mit dpa)

„Ein Knochenjob, aber sehr gut bezahlt.“Wadim Strangfeld, Bauingenie­ur

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Fotos: Franziska Kraufmann, dpa Tief unter der Erde von Stuttgart machen die Arbeiter auf Deutschlan­ds größter Bahn-Baustelle Fortschrit­te. Unser Bild zeigt eine Röhre des Cannstatte­r Tunnels.
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