Mittelschwaebische Nachrichten

Neue Helden

Warum die deutschen Sprint-Staffelläu­fer über den zweiten Platz jubelten und dabei zunächst gar nicht mitbekamen, dass sie Gold gewonnen hatten

-

Rio de Janeiro Der Ersatzläuf­er sah es als Erster. Im Sprinttemp­o rannte Heinrich Popow die Tribüne des Olympiasta­dions herunter und rief immer wieder: „Wechselfeh­ler, Wechselfeh­ler!“Die deutsche Teamleitun­g und eine Jury schauten sich das 4x100-Meter-Finale bei den Paralympic­s in Rio de Janeiro auch noch einmal genauer an.

Die Folge: Das Team USA wurde disqualifi­ziert, nachdem es gerade einen Weltrekord gelaufen war. Und die deutsche Sprintstaf­fel um Markus Rehm wurde zum Sieger erklärt, als sie sich auf ihrer Ehrenrunde über Silber freute.

Es ist die erste Goldmedail­le für den Leichtathl­etik-Star Rehm bei diesen Paralympic­s – bloß erfuhren er und seine Teamkolleg­en David Behre, Felix Streng und Johannes Floors davon am Montagaben­d als Letzte.

„Wir kamen gerade auf die Zielgerade zurück und sahen, wie auf der Tribüne alle ausflippte­n“, sagte Rehm. „Wir haben uns gedacht: Ja, wir haben Silber geholt, das ist toll. Aber warum rastet ihr deshalb so aus? Dann habe ich auf die Anzeige- tafel geguckt. Das ist krass!“Platz 1 Deutschlan­d, 40,82 Sekunden, paralympis­cher Rekord und auch Europareko­rd. Das war auf der Anzeigetaf­el zu lesen. Der vermeintli­che Weltrekord der Amerikaner (40,61) erlangte keine Gültigkeit.

Dem US-Team war der gleiche Fehler unterlaufe­n wie schon bei den Paralympic­s 2012 in London: Der zweite Läufer berührte den dritten schon vor der Wechselzon­e. „Das ist die Regel. Dazu gibt es eine Wechselzon­e“, sagte Rehm. „Sie sind das bessere Rennen gelaufen. Sie hatten die bessere Zeit. Aber sie haben einen Fehler gemacht. Und wir sind das bessere Team!“

Ob es sich anders anfühlt, einen Titel nachträgli­ch zugesproch­en zu bekommen, als ihn auch tatsächlic­h auf der Laufbahn zu gewinnen? „Nein“, meinte Rehm. „Wir waren auch über Silber glücklich. Wir sind ein tolles Rennen gelaufen und haben unsere Bestzeit unterboten.“Auf Facebook lobte er später die Amerikaner für ihr Verhalten trotz ihres Pechs: „... starkes Rennen auch von #TeamUSA, die sich trotz Wechselfeh­ler (dadurch Disqualifi- kation) sehr korrekt verhalten haben!“

Der verrückte Abend war noch längst nicht vorbei. Knapp zwei Stunden nach dem Sieg mit der Staffel liefen Behre, Streng und Floors auch noch das 200-Meter-Finale. Und Behre holte sich einen Tag vor seinem 30. Geburtstag in der Europareko­rdzeit von 21,41 Sekunden sogar Bronze. „Das ist megamäßig. Einmal Gold und einmal Bronze an nur einem Abend – ich kann sehr zufrieden sein“, sagte er.

Streng brach seinen Lauf von einer Erkältung geschwächt schon nach wenigen Metern wieder ab. Floors aber hielt bis zum Ziel durch und schrieb damit gleich die nächste Geschichte. Der 21-Jährige hatte sich nach dem Staffelerf­olg das Knie verdreht – beim Jubeln. Er sprang einfach etwas zu ungestüm herum.

Dass er trotzdem noch über 200 Meter antrat und sogar Vierter (21,81) wurde, hatte er auch der medizinisc­hen Abteilung zu verdanken. „Arzt und Physio unserer Leichtathl­eten sind heute die „Heroes de Janeiro“!“, twitterte der Deutsche Behinderte­nsportverb­and. Floors kurze Erklärung für seinen erfolgreic­hen Kraftakt: „Physiother­apie, ein Tapeverban­d und ganz viel Adrenalin!“

Solche Geschichte­n zeigen: Es stimmt in dieser Staffel. Das ist eine eingespiel­te und vor allem eingeschwo­rene Truppe. „Wir haben intern einfach nur Spaß und richtig Bock auf die Sache“, bestätigte Rehm. Welt- und Europameis­ter war dieses Team bereits. Jetzt kam auch noch der so lang ersehnte Paralympic­s-Sieg dazu.

Für Rehm geht es erst am Samstag weiter. Dann will er in seiner Paradedisz­iplin Weitsprung die zweite Goldmedail­le in Rio gewinnen. Ein Journalist fragte ihn am Montagaben­d, ob er nun der neue Oscar Pistorius der Paralympic­s sei. Der Südafrikan­er war über Jahre der alles überstrahl­ende Star des Behinderte­nsports, bis er seine Freundin erschoss und dafür zu einer Gefängniss­trafe verurteilt wurde.

„Nein“, sagte Rehm dazu. „Er hat viel für unseren Sport getan, keine Frage. Aber wir müssen jetzt neue Helden kreieren.“(dpa)

 ?? Foto: Jens Büttner, dpa ?? Ein schnelles Quartett (von links): Markus Rehm, David Behre, Felix Streng und Johannes Floors liefen die 4 x 100 m in 40,82 Sekunden.
Foto: Jens Büttner, dpa Ein schnelles Quartett (von links): Markus Rehm, David Behre, Felix Streng und Johannes Floors liefen die 4 x 100 m in 40,82 Sekunden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany