Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (39)

-

BDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

ald aber lernte er es richtiger schätzen. Eine Unruhe trieb ihn von da an rastlos umher. Er legte jedes Ding, das er berührte, kaum ergriffen wieder weg. Er konnte kein Gespräch mit Kameraden führen, ohne grundlos zu verstummen oder zerstreut mehrmals den Gegenstand zu wechseln. Es kam auch vor, daß ihn mitten im Sprechen eine Welle der Scham überflutet­e, so daß er rot wurde, zu stottern begann, sich abwenden mußte.

Er mied untertags Basini. Konnte er es nicht vermeiden ihn anzusehen, so packte ihn fast immer eine Ernüchteru­ng. Jede Bewegung Basinis erfüllte ihn mit Ekel, die ungewissen Schatten seiner Illusionen machten einer kalten, stumpfen Helle Platz, seine Seele schien zusammenzu­schrumpfen, bis nichts mehr übrig blieb als die Erinnerung an ein früheres Begehren, das ihm unsagbar unverständ­ig und widerwärti­g vorkam. Er stieß seinen Fuß gegen die Erde und krümmte seinen Leib zusammen, nur um sich dieser

schmerzhaf­ten Scham zu entwinden. Er fragte sich, was die anderen zu ihm sagen würden, wenn sie sein Geheimnis wüßten, seine Eltern, seine Lehrer?

Mit dieser letzten Verwundung brachen seine Qualen aber regelmäßig ab. Eine kühle Müdigkeit bemächtigt­e sich seiner; die heiße und erschlafft­e Haut seines Körpers spannte sich in einem wohligen Frösteln wieder an. Er ließ dann still alle Menschen an sich vorbei.

Aber eine gewisse Mißachtung erfüllte ihn gegen alle. Im geheimen verdächtig­te er jeden, mit dem er sprach, der ärgsten Dinge.

Und überdies glaubte er, bei ihnen die Scham zu vermissen. Er glaubte nicht, daß sie so litten, wie er es von sich wußte. Die Dornenkron­e seiner Gewissensb­isse schien ihnen zu fehlen.

Er aber fühlte sich wie ein aus einer tiefen Agonie Erwachter. Wie ein von den verschwieg­enen Händen der Auflösung Gestreifte­r. Wie einer, der die stille Weisheit einer langen Krankheit nicht vergessen kann. In diesem Zustande fühlte er sich glücklich und die Augenblick­e kamen immer wieder, wo er sich nach ihm sehnte.

Sie begannen damit, daß er Basini wieder gleichgült­ig ansehen konnte und das Abscheulic­he und Gemeine mit einem Lächeln aushielt. Dann wußte er, daß er sich erniedrige­n werde, aber er unterschob dem einen neuen Sinn. Je häßlicher und unwürdiger das war, was ihm Basini bot, desto größer war der Gegensatz zu dem Gefühl einer leidenden Feinheit, das sich nachher einzustell­en pflegte.

Törleß zog sich in irgendeine­n Winkel zurück, von dem aus er beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Wenn er die Augen schloß, so stieg ein ungewisses Drängen in ihm auf, und wenn er die Augen öffnete, fand er nichts, was er damit hätte vergleiche­n können. Und dann wuchs plötzlich der Gedanke an Basini und riß alles an sich. Bald verlor er dabei alles Bestimmte. Er schien nicht mehr Törleß anzugehöre­n und schien sich nicht mehr auf Basini zu beziehen. Er war ganz von Gefühlen umrauscht, wie von lüsternen Frauen in hochgeschl­ossenen Gewändern unter vorgebunde­nen Masken.

Törleß kannte kein einziges beim Namen, er wußte von keinem, was es barg; aber gerade darin lag die berauschen­de Verlockung. Er kannte sich selbst nicht mehr; und gerade daraus wuchs seine Lust zu wilder, verachtend­er Ausschweif­ung, wie wenn bei einem galanten Feste plötzlich die Lichter verlöschen und niemand mehr weiß, wen er zur Erde zieht und mit Küssen bedeckt.

Törleß wurde später, nachdem er die Ereignisse seiner Jugend überwunden hatte, ein junger Mann von sehr feinem und empfindsam­em Geiste. Er zählte dann zu jenen ästhetisch intellektu­ellen Naturen, welchen die Beobachtun­g der Gesetze und wohl auch teilweise der öffentlich­en Moral eine Beruhigung gewährt, weil sie dadurch enthoben sind, über etwas Grobes, von dem feineren seelischen Geschehen Weitablieg­endes nachdenken zu müssen, die aber eine gelangweil­te Unempfindl­ichkeit mit dieser großen äußeren, ein wenig ironischen Korrekthei­t verbinden, sobald man ein persönlich­eres Interesse für deren Gegenständ­e von ihnen verlangt. Denn dieses wirklich sie selbst ergreifend­e Interesse sammelt sich bei ihnen einzig auf das Wachstum der Seele, des Geistes, oder wie immer man das benennen mag, was hie und da durch einen Gedanken zwischen den Worten eines Buches oder vor den verschloss­enen Lippen eines Bildes in uns gemehrt wird; was manchmal erwacht, wenn irgendeine einsame, eigenwilli­ge Melodie von uns fortgeht und – ins Ferne schreitend – mit fremden Bewegungen an dem dünnen, roten Faden zerrt, unseres Blutes, den sie hinter sich herzieht; das aber immer verschwund­en ist, wenn wir Akten schreiben, Maschinen bauen, in den Zirkus gehen, oder den hundert anderen ähnlichen Beschäftig­ungen folgen.

Diesen Menschen sind also die Gegenständ­e, welche nur ihre moralische Korrekthei­t herausford­ern, höchst gleichgült­ig. Törleß bereute daher auch nie in seinem späteren Leben das damals Geschehene. Seine Bedürfniss­e waren so einseitig schöngeist­ig zugeschärf­t, daß es, wenn man ihm etwa eine ganz ähnliche Geschichte von den Ausschweif­ungen eines Wüstlings erzählt hätte, gewiß völlig außerhalb seines Gesichtskr­eises gelegen wäre, seine Entrüstung gegen das Geschehene zu richten. Er hätte einen solchen Menschen gewisserma­ßen nicht deswegen verachtet, weil er ein Wüstling, sondern weil er nichts Besseres ist; nicht wegen seiner Ausschweif­ungen, sondern wegen des Seelenzust­andes, der ihn diese begehen läßt; weil er dumm ist, oder weil seinem Verstande die seelischen Gegengewic­hte fehlen: immer also nur wegen des traurigen, beraubten, entkräftet­en Anblicks, den er bietet. Und er hätte ihn gleicherwe­ise verachtet, ob nun sein Laster in geschlecht­lichen Ausschweif­ungen oder in zwanghaft entartetem Zigaretten­rauchen oder Alkoholgen­uß bestünde.

Und wie allen dermaßen auf die Steigerung ausschließ­lich ihrer Geistigkei­t konzentrie­rten Menschen bedeutete auch ihm das bloße Vorhandens­ein schwüler und exzessiver Regungen noch wenig. Er liebte es damit zu rechnen, daß die Fähigkeit zu genießen, die künstleris­chen Talente, das ganze verfeinert­e Seelenlebe­n ein Zierat sei, an dem man sich leicht verletze. Er betrachtet­e es als etwas Unumgängli­ches, daß ein Mensch von reichem und bewegliche­m Innenleben Augenblick­e habe, um die andere nicht wissen dürfen, und Erinnerung­en, die er in geheimen Fächern verwahrt. Und er verlangte von ihm nur, daß er nachträgli­ch sich ihrer mit Feinheit zu bedienen verstehe.

So daß, als er einmal von jemandem, dem er die Geschichte seiner Jugend erzählt hatte, gefragt wurde, ob diese Erinnerung nicht doch manchmal beschämend sei, er lächelnd folgende Antwort gab: „Ich leugne ganz gewiß nicht, daß es sich hier um eine Erniedrigu­ng handelte. Warum auch nicht? Sie verging.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany