Mittelschwaebische Nachrichten

100 Millionen Daten über Bayern

In Augsburg kommen noch bis Freitag Zahlenexpe­rten aus ganz Deutschlan­d zusammen und diskutiere­n. Die Präsidenti­n des Bayerische­n Landesamte­s für Statistik spricht mit uns über fehlende Wertschätz­ung und geschlacht­ete Hunde

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Den Satz „Glaube nur der Statistik, die du zuvor selbst gefälscht hast“– hören Sie den oft? Marion Frisch: Den höre ich tatsächlic­h oft. Es hat sich einmal ein Kollege die Mühe gemacht, dem Ursprung dieses Zitates nachzugehe­n. Das wird ja Churchill zugeschrie­ben. Er hat sogar Schriftver­kehr mit Archiven aus Großbritan­nien angefangen, um eine Quelle zu finden. Aber er ist nicht fündig geworden. Seine weitere Forschung hat ergeben, dass die Legendenbi­ldung um diesen Satz wohl im Zweiten Weltkrieg stattgefun­den hat, mit dem Ziel, amtliche Verlautbar­ungen zu diskrediti­eren. Richtig kritisch wird man gar nicht aufgenomme­n, wenn man sich als Präsidenti­n des Landesamte­s für Statistik vorstellt, weil die meisten Leute in irgendeine­r Form von statistisc­hen Ergebnisse­n betroffen sind und das nicht gerade unspannend finden.

Um die 500 Wissenscha­ftler sind noch bis Freitag in Augsburg, allesamt Statistike­r. Welches Ziel verfolgen die Forscher bei ihrer Zusammenku­nft? Frisch: Diese „Statistisc­he Woche“findet einmal im Jahr statt – immer woanders und in Zusammenar­beit mit einer Universitä­t. Trotz des digitalen Zeitalters, in dem wir uns befinden, und trotz zahlreiche­r Online-Kontakte ist der persönlich­e Austausch sehr wichtig. Auch das ist ein Ziel dieses Treffens.

Wie wird man eigentlich Statistike­r? Frisch: Isolierte Studiengän­ge gibt es nur in Dortmund und an der LMU in München. Bei Studienfäc­hern wie Betriebswi­rtschaft, Volkswirts­chaft und anderen Sozialwiss­enschaften spielt Statistik durchaus eine Rolle, weil viele Forschungs­vorhaben unter Verwendung statistisc­her Daten und Methoden durchgefüh­rt werden.

Und wo kommen die Leute dann unter? Frisch: Da gibt es breite Anwen- dungsberei­che – und das nicht nur in einer Behörde. Denken Sie an große Unternehme­n oder Verbände, die bestimmte Entwicklun­gen analysiere­n wollen. Die bedienen sich gerne eines gelernten Statistike­rs.

Von wem erhält das Bayerische Landesamt für Statistik die Daten? Frisch: Man kann sagen: vom gesamten Behördenap­parat erhalten wir Zahlen. Daneben führen wir Erhebungen durch zum Beispiel bei Betrieben und Unternehme­n, ganz egal, ob es jetzt um Bautätigke­it, Ernteerträ­ge, Tierzucht oder die Anzahl touristisc­her Übernachtu­ngen in Hotels und Pensionen geht.

Wie viele statistisc­he Angaben werden bei Ihnen täglich verarbeite­t? Frisch: So kann ich das nicht beantworte­n. Wir haben als Landesamt mit knapp 360 Statistike­n zu tun, die in unterschie­dlichen Zeitabstän­den aktualisie­rt werden. Dahinter steckt natürlich vielmehr. Ein anschaulic­hes Beispiel ist unsere V er öffentlich­ungs plattform„ Genesis- Online“im Internet. Da sind 100 Millionen Daten verfügbar. Welche Macht können diese Zahlen ausüben? Welche Gefahr der Falschinte­rpretation besteht? Frisch: Also zunächst muss dazu gesagt werden, dass die Erhebung der verschiede­nen Statistike­n immer auf einer Rechtsgrun­dlage beruht. Das wird nicht willkürlic­h gemacht. Der Gesetzgebe­r legt fest, welche Statistike­n wann, wie und wie oft erhoben werden sollen. Die amtliche Statistik hat sich europaweit einem „Code of practice“verpflicht­et. Das sind 15 Leitlinien, zu denen wir uns als unabhängig­e amtliche Statistik bekennen. Dazu gehört Transparen­z bei den Erhebungsm­ethoden. Wir informiere­n in sogenannte­n Qualitätsb­erichten beispielsw­eise darüber, wie wir zu den Zahlen gekommen sind. Wie viele Menschen haben wir nach welchen Kriterien gefragt? Welche Fragen wurden gestellt? Welches Schätz- oder Hochrechnu­ngsverfahr­en haben wir bei Stichprobe­n angewendet. Das wird alles ganz genau veröffentl­icht. Die Zahlen sind eine bedeutende Entscheidu­ngsgrundla­ge. Deshalb tragen wir eine große Verantwort­ung, dass sie korrekt sind. Das ist, wenn man so will, ein Beitrag zur Demokratie.

Wenn wir mal Absicht ausschließ­en: Woran kann es noch liegen, dass statische Zahlen falsch wiedergege­ben werden. Können wir Statistik nicht? Frisch: In einem wissenscha­ftlichen Vortrag, den ich vergangene­s Jahr besucht habe, hat ein Professor folgende These aufgestell­t: Im Land von Goethe und Schiller gibt es eine Bevorzugun­g von Dichtung, geschriebe­nen Worten und Sprache. Viele Leute schmücken sich gar mit einer schlechten Zeugnisnot­e in Mathematik. Das Schöngeist­ige ist gefragt. Der Zahlenmens­ch hierzuland­e ist eher der Nerd. Ich kann mir das durchaus als Ursache für eine gewisse Unkenntnis bei der Analysefäh­igkeit von Daten vorstellen. Die Wertschätz­ung für Zahlen und Daten muss wachsen – erst recht in einer digitalen Welt.

Sind die Statistike­n genauer als früher? Frisch: Das kann man in jedem Fall sagen. Durch die IT-Möglichkei­ten können erheblich größere Datenmenge­n verarbeite­t werden. Außerdem greifen wir auf mathematis­che Lehrsätze zurück, die wir vorher nicht hatten und die auf Zähl- und Schätzverf­ahren angewendet werden können. Stellen Sie sich vor, wie vor 200 Jahren eine Viehzählun­g abgelaufen ist: Da ist möglicherw­eise jemand im Pferdefuhr­werk umhergefah­ren und hat in einer Region die Viehbestän­de gezählt. Das hat er aufgeschri­eben und hat sich nach getaner Arbeit auf den Weg zur Statistik-Behörde gemacht. Ein Schreiber trug viele Werte von vielen Zählern handschrif­tlich in einer Kladde ein und addierte sie. Heute haben wir alle landwirtsc­haftlichen Betriebe in einem Register. Und die meisten haben inzwischen die Möglichkei­t, ihre Angaben online zu übertragen.

„Die Zahlen sind eine bedeutende Entscheidu­ngsgrundla­ge.“

Welche Statistike­n werden dazukommen? Frisch: Etwa die über Passagierz­ahlen in Fernbussen. Die Busse stehen inzwischen ja in Konkurrenz zur Bahn und ähnlichen Verkehrstr­ägern. Deshalb sind solche Zahlen relevant. Die Erfassung ist vom Bundesgese­tzgeber angeordnet.

Und was wird nicht mehr erfasst? Frisch: Hundeschla­chtungen zum Beispiel. Die wurden früher gezählt wie die Schlachtun­gen von Hühnern, Rindern oder Schweinen.

Wir sprechen jetzt nicht von China, sondern von Bayern? Frisch: Ja. Für das Jahr 1912 ist dokumentie­rt, dass 414 Hunde zur Nahrungsge­winnung geschlacht­et worden sind.

Interview: Till Hofmann

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Marion Frisch

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