Mittelschwaebische Nachrichten
Der Schwarzwald: Nabel der Plattenwelt
Das Label MPS ist Kult bei Jazz- und Klassikfans. Sein Gründer lockte Stars nicht nur mit hohen Gagen, sondern auch mit der Küche der Ehefrau. Nach langer Pause sind die alten Aufnahmen jetzt wieder greifbar. Das freut auch DJs
Villingen Irgendwie komisch: Die ersten Nachrufe auf die CD erklangen schon um die Jahrtausendwende. Fast zwanghaft versuchen Trendsetter seither die kleine Silberscheibe zu beerdigen. Doch es mag ihnen einfach nicht gelingen. Laut dem aktuellen Jahresbericht der Deutschen Musikindustrie gingen 2015 von 105 Millionen verkauften Musikalben allein 84 Millionen als CD über reale und virtuelle Ladentische. Und die Vinyl-LP war eigentlich schon vor 35 Jahren mausetot, feierte dann aber eine kaum erwartete Wiederauferstehung. Mit 2,1 Millionen verkauften Exemplaren wuchs ihr Verkaufsanteil in Deutschland im vergangenen Jahr sogar um satte 21 Prozent. Totgesagte Technik, höchst lebendig.
Hans Georg Brunner-Schwer hätte sich ob dieser Zahlen wahrscheinlich ins Fäustchen gelacht. Dabei lässt sich darüber spekulieren, ob der Großindustrielle und Jazzfan aus dem Schwarzwald zu Lebzeiten tatsächlich mit den digitalen Verbreitungsmöglichkeiten des 21. Jahrhunderts Freundschaft geschlossen hätte. Denn der Gründer und Produzent des Kultlabels MPS hatte seinen Rückzug vom Musikgeschäft Anfang der 1980er mit der Machtübernahme des Musikmarktes durch die Compact Disc begründete. Aber Brunner-Schwer, 2004 mit 77 Jahren bei einem Autounfall verstorben, wäre an den Errungenschaften der Gegenwart auf jeden Fall interessiert gewesen.
Zu jener Zeit jedoch, als der gelernte Tonmeister seinen Ruf als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Produzenten Deutschlands manifestierte, kam Musik noch hauptsächlich von einer großen, schwarzen Scheibe, die knisternd auf einem Plattenspieler rotierte. Das Zauberwort hieß „Stereo“. Soundtüftler feilten verbissen daran, den im Wohnzimmer sitzenden Fan mit opulenter Klangfülle zu umgarnen. Und erstaunlicherweise erzielten sie dabei Resultate, die noch heutigen Maßstäben genügen.
Wer schon damals die LP nur als ein tönendes Medium betrachtete, der übersah das große Ganze. Sie galt als Abenteuer für alle Sinne, in das man dank der quadratischen Verpackungen mit ihren kunstvollen Artworks, Fotos und Texten noch weitaus tiefer eintauchen konnte. Und sie entpuppte sich als begehrtes Sammlerobjekt. Der umtriebige Mann aus VillingenSchwenningen bediente all diese Begierden über zwei erfolgreiche Jahr- hinweg mit MPS (Musik Produktion Schwarzwald). Das Label galt als die Topadresse für Jazz- , später auch für Klassikfans.
Dass Brunner-Schwers Sohn Matthias nach einer längeren Zeit der Stille inzwischen wieder das vom Landesdenkmalamt BadenWürttemberg mit dem Titel „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“geadelte Studio betreibt und MPS nach drei Jahrzehnten Pause seinen legendären Katalog neu auflegt, aber auch jungen Talenten eine Plattform gibt, steht exemplarisch für eine Trendwende im ganzen Hype um Downloads und Streaming. Gerade 2016 punktet MPS mehr denn je mit erlesener Klangqualität und Musikpreziosen. Nicht nur der britische Kult-DJ Gilles Peterson macht aus seiner besonderen Liebesbeziehung zu dem Schwarzwald-Label keinen Hehl.
Im Katalog des Labels findet sich so manche Obskurität, hinter der sich eine der unzähligen MPS-Geschichten verbirgt. Hans Georg Brunner-Schwer, den alle stets nur HGBS nannten, hatte bereits Ende der 1950er Jahre noch unter dem Label SABA (Schwarzwälder Apparate Bau Anstalt) begonnen, erste Aufnahmen zu produzieren. Später organisierte er legendäre Hauskonzerte im Anbau seiner Villa, zu denen jene von 1963 mit dem kanadischen Pianisten Oscar Peterson bis heute zu den populärsten zählen. Das Studio richtete sich BrunnerSchwer direkt über dem Wohnzimmer ein, wo er mithilfe frühester Videotechnik ein Konzert direkt mitschneiden, mischen und später auch ansehen konnte.
HGBS wusste genau, wie er sich und der Nachwelt Sternstunden schenken konnte – indem er seinen prominenten Gästen jeden Wunsch von den Augen ablas. Allein der Rehrücken und die selbst gemachten Spätzle von Ehefrau Marlies galten für ausgehungerte Künstler wie Duke Ellington, Count Basie, Ella Fitzgerald, Bill Evans, Stéphane Grappelli oder Albert Mangelsdorff als absolutes Muss. Der wahre Grund für die Dauerbelagerung des Schwarzwalds durch Weltstars lag aber vor allem in den üppigen Gagen, die Brunner-Schwer jedem seizehnte ner Gäste zahlte. Auf diese Weise gelang es MPS über die Jahre, einen über 500 Aufnahmen umfassenden Jazz-Katalog aufzubauen.
Als Technischer Geschäftsführer der SABA-Werke und später als Labeleigner war Brunner-Schwer niemandem Rechenschaft über den kommerziellen Erfolg seiner Produktionen schuldig. Sein finanzieller Background ermöglichte ihm Aufnahmen in Art und Umfang, wie sie heute nur noch im Schlaraffenland des Pop möglich sind. Das Allroundtalent Brunner-Schwer schätzte die Vielfalt. Neben Jazz und Klassik produzierte er auch Marschmusik, Unterhaltungsgesäusel (neudeutsch: Easy Listening), sogar Schlager. Am meisten liebte HGBS freilich Aufnahmen der großen Pianisten. Gerne solo – Friedrich Gulda etwa –, im Duo oder Trio, allen voran von Oscar Peterson, dessen MPS-Einspielungen zu den besten seiner Karriere zählen.
Allein die Aufmerksamkeit, die heute jede Wiederveröffentlichung von MPS erregt, spricht für die große Sehnsucht der Menschen nach Klangerlebnissen. Die opulente Box von Oscar Peterson „Exclusively For My Friends“mit bisher noch
Für die Künstler war es fast wie Urlaub
unveröffentlichten „Lost Tapes“sowie andere, jüngst ausgegrabene akustische Artefakte von Baden Powell, Freddie Hubbard oder Joe Henderson, aber auch Aktuelles von Lisa Bassenge, Barbara Dennerlein und dem ewig jungen Rolf Kühn finden erstaunlichen Absatz. Natürlich in Form der guten alten VinylLangspielplatte oder als vermeintliches Auslaufmodell Compact Disc, ja sogar – man lese und staune – als analoges Tonband. Aber auch als DVD, Download und High Resolution Audio für USP und Festplatte. An der Schnittstelle von der audiophilen Vergangenheit zur Zukunft beginnt bei MPS die Gegenwart.