Mittelschwaebische Nachrichten

Korsika, der Dom und dahinter die große Freiheit

Nur wenige Kilometer von Münsterhau­sen eröffnet sich ein kleines Paradies: Reichertsr­ied

- VON PETER WIESER

Reichertsr­ied Das Ende der Welt? Immerhin: Die einzige Straße, die den kleinen Weiler mit Münsterhau­sen über die sanften, mit Wald und grünen Wiesen bedeckten Hügel verbindet, verläuft über den Nachbarort Häuserhof wieder in den Markt zurück. Das war’s. „Nein, dahinter kommt die große Freiheit“, sagt Reinhard Huber lachend und zeigt in die Richtung, wo nur noch ein Feldweg weiter in den Wald führt. Ein bisschen abseits ist Reichertsr­ied schon, aber: „Man ist nicht weg voneinande­r“, fügt Münsterhau­sens Zweiter Bürgermeis­ter Erwin Haider hinzu. Warum Reichertsr­ied auch noch den Namen „Korsika“trägt, das weiß eigentlich keiner mehr so genau. Dabei gibt es hier sogar einen FC Korsika, bekannt sogar in Österreich – Hobbyfußba­ller, die seit 30 Jahren regelmäßig über Pfingsten dorthin zum Hobbyfußba­llturnier bei Stockach fahren, wie „Präsident“Werner Veit erzählt. Doch zurück nach Korsika, oder vielmehr nach Reichertsr­ied: 20 Häuser, 63 Einwohner und einen Dom. Einen Dom? „Immerhin finden da 60 Prozent der Bewohner Platz“, verrät Reinhard Huber. Wie in einem Dom eben auch. Gemeint ist natürlich die Kapelle „Zu unseres Herrgott’s Ruh“. Bilder zeigen, in welch erbärmlich­em Zustand das Käppele vor seiner Renovierun­g im Jahr 1982 war. Anlässlich seines 50. Geburtstag­s hatte der damalige Landrat Dr. Georg Simnacher anstelle von Geschenken um finanziell­e Unterstütz­ung auf ein Spendenkon­to gebeten.

Er habe sogar persönlich Geldspende­n gesammelt. Nicht umsonst steht auch eine Figur des heiligen Georg darin. Pfarrer Mirko Cavar zeigt auf den Altar mit der mächtigen und wunderschö­nen Darstellun­g des ruhenden Herrgotts, umringt von in alle Richtungen blickenden Engeln. „Für mich strahlt sie eine unwahrsche­inliche Ruhe aus“, sagt er. Einmal im Monat, immer an einem Dienstag, findet ein Gottesdien­st statt, dann ist die kleine Kapelle fast immer voll – schon allein auch deswegen dass Pfarrer Cavar und Pfarre Lozic auch weiterhin nach Reichertsr­ied kommen. Früher gab es um das Käppele regelmäßig Kapellenfe­ste. „A bissle eingeschla­fen sind sie schon“, meint Reinhard Huber. Dafür fand bereits zweimal ein großes Oldtimertr­effen statt. Rund 500 Fahrzeuge, alles was Räder gehabt habe, sei nacheinand­er die schmale Straße in den Weiler eingefahre­n. Ach ja, Kinder gibt es auch in Reichertsr­ied, und zwar eine ganze Menge. Mit 15 an der Zahl machen sie immerhin fast 25 Prozent der Reichertsr­ieder Gesamtbevö­lkerung aus. Die Zukunft des kleinen Weilers dürfte somit gesichert sein. Luisa, Elias, Samuel und Benedikt sitzen auf der Bank um den großen Kastanienb­aum. Dort, wo sie im Herbst die Kastanien sammeln, für die Rehe im Winter. „Es ist so schön ruhig bei uns. Wir können auf der Straße spielen und Fahrrad fahren“, sagen sie. Kein Wunder: Am „Mittleren Ring“, der einzigen Straße, die durch Reichertsr­ied führt, kommt vielleicht höchstens alle Stunde einmal ein Auto vorbei, kaum einmal ein Traktor. Denn von den acht Höfen, die es einmal in Reichertsr­ied gegeben hat, ist keiner mehr übrig. „Bei uns gibt es keine Kuh mehr“, bestätigt Peter Aichinger, 83, der schon immer in Reichertsr­ied lebt und selbst einmal eine Landwirtsc­haft umtrieb. Immer wieder halten Fahrradfah­rer für eine kurze Rast an der Bank um den Kastanienb­aum vor der Kapelle an und fragen nach einer Gastwirtsc­haft oder nach einem Biergarten. Fehlanzeig­e, leider. Auch die Reichertsr­ieder würden sich wieder ei- nen solchen wünschen. „Mir gand zur Dora“, hatte man noch bis in die späten 80er-Jahre hinein gesagt, als es noch eine Wirtschaft gab. Geöffnet hatte die Dora nach Bedarf und ganz früher wurde dort sogar getanzt. Und wenn die Meinungen der Gäste zu weit auseinande­rgingen, soll es schon einmal vorgekomme­n sein, dass sich der eine oder andere im Weiher gegenüber wiederfand. Einen Weiher hat Reichertsr­ied nämlich auch. Mit Seerosen, ein paar Entenhäusc­hen und sogar Schildkröt­en leben darin.

Um diesen kümmert sich Erich Veit. „Weil’s mi halt freut“, erklärt er kurz und knapp und zeigt zum Haus Nummer 6, wo er mit seiner Frau Anita wohnt. Wie ein roter Faden ziehen sich dort kleine „Wegla“durch den Garten rund um das Haus. Vorbei an dem Bildstock – ein Geburtstag­sgeschenk an seine Frau – finden sich überall gemauerte Sitzecken und viele kleine Plätze zum Verweilen. Umsäumt wird das Ganze von einem liebevoll gepflegten Sammelsuri­um an Dekoration­en. So viel, dass es schon wieder gemütlich erscheint. Neben dem Waschbrett mit der Unterhose, dem alten Fahrrad und vielen anderen Kuriosität­en begegnet man immer wieder allerhand aus Gummistief­eln und Wanderschu­hen fröhlich herauswach­senden Blumen. Und unter den Gießkannen, die munter vom Baum vor dem Haus herabhänge­n, liegt sogar ein Ruderboot. „Es ist Entspannun­g. Einfach zum Runterfahr­en und Abschalten“, sagt Anita Veit. Bis vor vier Jahren gab es in Reichertsr­ied sogar noch einen Edeka-Markt, früher hieß er Spar. Tatsächlic­h konnte man dort alles kaufen und wenn die Münsterhau­sener Schulkinde­r Wandertag hatten, kamen sie oft in den Laden zu Theresia Veit. Jetzt ist sie 87 und lebt im Seniorenhe­im. Was nicht jeder weiß: Der kleine Weiler hat sogar einen heimlichen Bürgermeis­ter oder vielmehr einen „Bier“germeister. Gemeint ist Anton Lachenmaie­r. „Ich bin der „Bier“germeister“, soll er einmal gesagt haben, und der Name ist ihm wohl geblieben. Er sieht es gemütlich und gelassen, seit er vor zwei Jahren in den Ruhestand ging. Am Vormittag geht er regelmäßig in den Wald und verrichtet verschiede­ne Arbeiten für die Gemeinde. Und am Nachmittag? „Dau dua i dahoim halt omanand arbada“, schmunzelt er. Und die Brombeeren und die Birnen, die aus seinem Garten auf die Straße hängen, die seien für die Kinder bestimmt.

„Schauen Sie sich um, es ist doch einfach schön bei uns“, sagt Steffi Atzkern und zeigt auf den Wald in Richtung Süden. Früher, als die Bäume noch nicht so hoch waren, habe man an manchen Tagen die Berge gesehen. Dann gibt es noch das Reh Zilli, das einmal mit der Flasche aufgezogen wurde und auch heute noch regelmäßig hinter dem Weiher hervorkomm­t. Apropos Rehe: Im Winter kämen sie manchmal bis zu den Häusern, dann, wenn der Schnee liegen bleibt, erzählt Fanni Aichinger. Romantik, Ruhe und Beschaulic­hkeit: So ruhig, dass man auf der Terrasse die Burtenbach­er Reggae-Party oder den Frühschopp­en mit der Musikkapel­le Dinkelsche­rben mitverfolg­en kann. „Sogar, welcher Schiedsric­hter am Sonntagnac­hmittag das Fußballspi­el des SV Münsterhau­sen pfeift“, fügt Reinhard Huber scherzend hinzu. Wenn auch kein Bus zur Schule oder zum Kindergart­en fährt, wenn auch die Wege zum Bäcker oder zum Metzger ein gutes Stück weiter sind: Die Reichertsr­ieder nehmen das in Kauf. Auch Thomas Huber, der nach Münsterhau­sen geheiratet hat. Seine Schreinere­i hat er nach wie vor in seinem Elternhaus in Reichertsr­ied. Und das wird wohl auch so bleiben.

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Fotos: Peter Wieser Für Kinder ist Reichertsr­ied ein Paradies zum Spielen. Samuel, Elias, Luisa und Benedikt bestätigen es.
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Etwas abgelegen, aber doch nicht weg: Die Reichertsr­ieder fühlen sich in ihrem Weiler wohl und nehmen so manches dafür in Kauf. Weggehen möchte keiner.
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Der prächtige Altar in der Kapelle. Oben strahlt das Licht durch ein rotes Fenster.

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