Mittelschwaebische Nachrichten
Der Flaneur
Umherstreifen ohne Erwartung und ohne Ziel: Von der Lust an der Aneignung der Welt draußen vor der Tür
Paris! Toll! Aber Flaneur in Paderborn? Wie bitte? Es gibt keine Sehensunwürdigkeiten
Angenommen dieser Text wäre eine Stadt und Sie, der Leser, ein Flaneur, dann sollten wir uns auf Folgendes verständigen: Sie gehen einfach los, ohne vorgefasste Absicht und ohne Ziel. Kein Zeitfenster, kein Limit. Sie registrieren, was ist, aber Sie erwarten nichts Bestimmtes. Sie schauen sich um in dieser Geschichte, Sie bewerten nicht. Sie sind allein, Sie sind aufmerksam, Sie bleiben auf Distanz und Sie schweigen. Einverstanden?
Treten Sie vor die Türe. Rechts gehen oder links? Folgen Sie irgendeinem Detail, das wie eine schwache, aber spürbare Anziehung wirkt. Das Glitzern eines geparkten Autos. Ein Teppich, der aus einem Fenster hängt. Ein Paar, das gerade feixend die Straße überquert. Dieser Zettel, der mit grauem Paketband an einem Ampelmasten festgemacht ist. Eine offene Ladentüre. Die Bierflasche auf dem Sockel eines Parkscheinautomaten. Unkraut, das aus einem Kellergitterrost wächst. Gehen Sie da hin, von wo der Wind oder ein Geräusch Sie anweht. Oder bleiben Sie einfach stehen und warten wie ein Zugvogel auf den Moment des Aufbruchs. Doch ein kleiner Schubs? „Was ich sehe, ist der lächerlich unscheinbare Zug im Antlitz der Straße und des Tages“, schrieb der große Joseph Roth 1921.
Der Flaneur ist eine romantisierte, literarisch verwurzelte und verklärte Figur. Das Revier dieser Figur ist natürlich der große Boulevard. Lichter, Leute, Läden, Passagen. Flaneur in Paris? Ja! Toll! Flaneur in Paderborn? Wie bitte? Da ist schon das erste Missverständnis. Nicht die Umgebung macht den Flaneur. Der Flaneur braucht keine Flaniermeile, die sollte er eher meiden. Es genügt ihm der Straßenraum. Auch in Paderborn kann man sich verdächtig machen, also flanieren. Der Flaneur braucht keinen großen Rahmen und kein großes Schauspiel auf klangvoller Bühne. Wir müssen uns das Flanieren als eine Einstellungssache vorstellen. Flanieren ist keine Filmrolle, sondern eine Haltungsfrage. Nennen wir es: vorurteilsloses Interesse am Selbstausdruck der Welt. Wahrnehmung als Tätigkeit im urbanen Raum, ein dauerhaftes Duett mit dem Zufall. Gewahrwerden von Einzelheiten. Bestandsaufnahmen im Gewirbel der Gleichzeitigkeit.
Was im Rinnstein liegt. Welche Namen auf dem Klingelbrett stehen. Wie groß der Knoten im Gazeschleier vor einem Baugerüst ist. Wie der Schuhmacher seine Öffnungszeiten handschriftlich ins winzige Schaufenster geklebt hat. Das vertrocknete Gras auf einer Verkehrsinsel. Ein leerer Karton auf dem Gehsteig, in dem eine alte Brille und zwei Weinkelche liegen und an dem ein Zettel klebt: zu verschenken. Der Blinde mit dem weißen Stock, der auf Autoblech klopfend seinen Weg sucht. Ein verwitterter Aufkleber auf einer Regenrinne, der einmal knallbunt war. Der Schriftzug „Heißmangel“auf einem Fenster, das von innen mit vergilbten Zeitungen zugeklebt ist, die auf dem Kopf stehen. Womit nun auch klar ist, was alles kein Flanieren ist: Waldspaziergänge, Gassi-Gehen, Besorgungsgänge, Besichtigungen, Wanderungen aller Art, Erledigungswege, Walken, Pokemons hinterherjagen, Ausgehen, Schlendern mit der Liebsten (oder dem Liebsten), Zigarettenholen, Stadtführungen.
und sehen: Dazu müssen wir uns erst einmal vom Klischee und der Last der großen Vorbilder lösen. Wer, beispielsweise zur Bebilderung dieser Titelgeschichte, nach Fotos sucht und als Suchwort „Flaneur“eingibt, dem zeigen die Ergebnisse aus vielen Bilddatenbanken vor allem dies: Der Flaneur ist eine elegante Gestalt aus der Vergangenheit. So alt wie die Dampflokomotive. So verschmockt wie Monokel und Gaslaterne. 19. Jahrhundert, ein bisschen 20. Jahrhundert. Paris, London, Madrid, Berlin – Weltstädte, Prachtstraßen.
Der Suchtreffer-Flaneur trägt Hut oder Zylinder, einen schwarzen Rock und immer einen Gehstock. Er wirkt leicht versnobt und angejahrt aristokratisch. Ein blasierter Dandy mit großbürgerlicher Attitüde, der anonym in der Menge der Großstadt mitschwimmt und ab und zu die Augenbraue hochzieht. Sein Ozean: der öffentliche Raum. Und: Der Flaneur ist immer ein Mann. Es gibt keine Flaneurinnen, keine Flaneusen. Frauen flanieren nicht? Jedenfalls nicht in der kollektiven Vorstellung, die geprägt ist von intellektuellen, wortgewandten Groß-Flaneuren wie Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Harry Graf Kessler und Franz Hessel. Virtuosen des absichtslosen Stadtspaziergangs als Kunstform. Sagen und schreiben tolle Sachen über das Flanieren wie: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“(Franz Hessel, 1880–1941). Oder Guillaume ApolGehen „Ich gehe möglichst selten in die großen Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek.“Und der Cheftheoretiker der „flânerie“, Walter Benjamin: „Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.“
Die Autorin Hannelore Schlaffer, die ein sehr schönes Buch über die City geschrieben hat, in dem sie das Verschwinden des öffentlichen Raums beklagt, schreibt: Ein Flaneur alter Schule, „der als Beobachter auftrat, um beobachtet zu werden, würde heute entweder provozierend oder lächerlich wirken“. Tatsächlich muss sich, wer das Flanieren jenseits der Münchner Leopoldstraße oder dem Berliner Kuhdamm in Kleinstadtstraßen und Wohnvierteln, im ordinären Straßennetz irgendeiner fünfstelligen Postleitzahl betreibt, dagegen wappnen, als verdächtiges Subjekt beäugt zu werden. Undurchschaubarer als jeder Obdachlose, der auf der Parkbank sein Bier trinkt und ab und zu eine Verwünschung an die Umgebung adressiert. Menschen, deren Anwesenheit und Gehen von keinem erkennbaren Zweck, keinem Ziel geleitet scheint, fallen auf. Ihr Rhythmus, geschuldet der „Lektüre der Straße“(Franz Hessel), ist ein anderer. Wenn sie nicht einkaufen, wenn sie nicht unterwegs sind von A nach B oder einfach nur herumlungern – was tun sie dann? Auskundschaften? Wahre Absichten verbergen? Auf eine Gelegenheit warten?
Der Flaneur fällt als eine Art belinaire: obachtender Nichtsnutz heraus aus dem Koordinatensystem unseres getakteten Lebens, er ist ein Fremdkörper im vertrauten Getriebe, er erntet Misstrauen, erregt Argwohn.
Das ging dem klassischen Flaneur und bereits erwähnten Franz Hessel auch schon so: „Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“Hessel hat Trost für den Flaneur, dem sie in Krumbach oder Paderborn am liebsten die Polizei hinterherschicken würden: „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“
Das mit dem Auskundschaften ist ja nicht falsch. Wer flaniert, erkundet. Das tat schon der Urahn des Flaneurs, Edgar Allan Poes „Mann in der Menge“, so der Titel einer 1838 erschienenen Novelle. Er betrachtet das urbane Schauspiel, das ihn umgibt. „Das Gefühl der wiederkehrenden Kräfte hatte mich in jene glückliche Stimmung gebracht, die das Gegenteil von Langeweile ist, alle Sinne schärft, aufnahmefähiger macht… Alles, selbst Unbedeutendes, nötigte mir eine ruhige, forschende Teilnahme ab.“
Wir notieren in unser Büchlein mit dem Titel „So geht Flanieren“dies: Ruhige, forschende Teilnahme. Alles ist betrachtens- und wahrnehmungswert, die Kategorien von bedeutend und unbedeutend sind uns fremd. Wir sind ganz und gar uneffektive Vagabunden des Augenblicks. Wir sammeln die Stadt in unserem Kopf an. Wir leisten den Dingen und Erscheinungen Gesellschaft, die auf der Straße mit sich allein sind. Alles hat seine Berechtigung, es gibt keine Sehensunwürdigkeiten. Pathetisch formuliert: „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben. Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als Erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit.“Das sagt der niederländische Autor Cees Noteboom. Kann man sich mal merken, falls Sie einmal in Paderborn, Füssen oder Donauwörth etwas zu Ihrer Verteidigung vorzutragen sich genötigt sehen sollten.
Flanieren ist kein Zeitvertreib für schöne Feiertage oder Urlaubswochen in der exotischen Fremde. Der Flaneur lebt im Alltag von den Exerzitien der Wiederholung. Er geht dieselben Wege, er durchstreift seine Stadt in immer neuen Durchsichten, er registriert kleine Veränderungen, die das unablässige Wogen und Walten hervorbringt. Wie Treibgut am Strand bringen die Gezeiten des Alltags neue Bilder, Situationen, Szenen, Dinge, Kombinationen. Die Telefonzelle, die immer da stand – verschwunden, abgebaut. Die alte Frau, die an der Bushaltestelle steht und sich die Abfahrtzeiten mit Kugelschreiber in einen kleinen Block notiert. Ein Umzugswagen und darin noch der halbe Hausstand. Ein sehr alter, mehr kriechender als noch laufender Hund, der jeden Tag noch ausgeführt wird mit Engelsgeduld.
Wozu das alles? Was bringt das Flanieren? Es ist eine Art, nicht nur Anteil an der Welt zu nehmen, sondern sich die Welt anzueignen. Pars pro toto – das Teil fürs Ganze, ein paar Straßenzüge als Abbild von allem. Manchmal stellt sich dann ein Gefühl von Beglaubigung ein. Denn nur das, was wir sehen, existiert auch. Worauf warten Sie?