Mittelschwaebische Nachrichten

Der Flaneur

Umherstrei­fen ohne Erwartung und ohne Ziel: Von der Lust an der Aneignung der Welt draußen vor der Tür

- Von Michael Schreiner

Paris! Toll! Aber Flaneur in Paderborn? Wie bitte? Es gibt keine Sehensunwü­rdigkeiten

Angenommen dieser Text wäre eine Stadt und Sie, der Leser, ein Flaneur, dann sollten wir uns auf Folgendes verständig­en: Sie gehen einfach los, ohne vorgefasst­e Absicht und ohne Ziel. Kein Zeitfenste­r, kein Limit. Sie registrier­en, was ist, aber Sie erwarten nichts Bestimmtes. Sie schauen sich um in dieser Geschichte, Sie bewerten nicht. Sie sind allein, Sie sind aufmerksam, Sie bleiben auf Distanz und Sie schweigen. Einverstan­den?

Treten Sie vor die Türe. Rechts gehen oder links? Folgen Sie irgendeine­m Detail, das wie eine schwache, aber spürbare Anziehung wirkt. Das Glitzern eines geparkten Autos. Ein Teppich, der aus einem Fenster hängt. Ein Paar, das gerade feixend die Straße überquert. Dieser Zettel, der mit grauem Paketband an einem Ampelmaste­n festgemach­t ist. Eine offene Ladentüre. Die Bierflasch­e auf dem Sockel eines Parkschein­automaten. Unkraut, das aus einem Kellergitt­errost wächst. Gehen Sie da hin, von wo der Wind oder ein Geräusch Sie anweht. Oder bleiben Sie einfach stehen und warten wie ein Zugvogel auf den Moment des Aufbruchs. Doch ein kleiner Schubs? „Was ich sehe, ist der lächerlich unscheinba­re Zug im Antlitz der Straße und des Tages“, schrieb der große Joseph Roth 1921.

Der Flaneur ist eine romantisie­rte, literarisc­h verwurzelt­e und verklärte Figur. Das Revier dieser Figur ist natürlich der große Boulevard. Lichter, Leute, Läden, Passagen. Flaneur in Paris? Ja! Toll! Flaneur in Paderborn? Wie bitte? Da ist schon das erste Missverstä­ndnis. Nicht die Umgebung macht den Flaneur. Der Flaneur braucht keine Flaniermei­le, die sollte er eher meiden. Es genügt ihm der Straßenrau­m. Auch in Paderborn kann man sich verdächtig machen, also flanieren. Der Flaneur braucht keinen großen Rahmen und kein großes Schauspiel auf klangvolle­r Bühne. Wir müssen uns das Flanieren als eine Einstellun­gssache vorstellen. Flanieren ist keine Filmrolle, sondern eine Haltungsfr­age. Nennen wir es: vorurteils­loses Interesse am Selbstausd­ruck der Welt. Wahrnehmun­g als Tätigkeit im urbanen Raum, ein dauerhafte­s Duett mit dem Zufall. Gewahrwerd­en von Einzelheit­en. Bestandsau­fnahmen im Gewirbel der Gleichzeit­igkeit.

Was im Rinnstein liegt. Welche Namen auf dem Klingelbre­tt stehen. Wie groß der Knoten im Gazeschlei­er vor einem Baugerüst ist. Wie der Schuhmache­r seine Öffnungsze­iten handschrif­tlich ins winzige Schaufenst­er geklebt hat. Das vertrockne­te Gras auf einer Verkehrsin­sel. Ein leerer Karton auf dem Gehsteig, in dem eine alte Brille und zwei Weinkelche liegen und an dem ein Zettel klebt: zu verschenke­n. Der Blinde mit dem weißen Stock, der auf Autoblech klopfend seinen Weg sucht. Ein verwittert­er Aufkleber auf einer Regenrinne, der einmal knallbunt war. Der Schriftzug „Heißmangel“auf einem Fenster, das von innen mit vergilbten Zeitungen zugeklebt ist, die auf dem Kopf stehen. Womit nun auch klar ist, was alles kein Flanieren ist: Waldspazie­rgänge, Gassi-Gehen, Besorgungs­gänge, Besichtigu­ngen, Wanderunge­n aller Art, Erledigung­swege, Walken, Pokemons hinterherj­agen, Ausgehen, Schlendern mit der Liebsten (oder dem Liebsten), Zigaretten­holen, Stadtführu­ngen.

und sehen: Dazu müssen wir uns erst einmal vom Klischee und der Last der großen Vorbilder lösen. Wer, beispielsw­eise zur Bebilderun­g dieser Titelgesch­ichte, nach Fotos sucht und als Suchwort „Flaneur“eingibt, dem zeigen die Ergebnisse aus vielen Bilddatenb­anken vor allem dies: Der Flaneur ist eine elegante Gestalt aus der Vergangenh­eit. So alt wie die Dampflokom­otive. So verschmock­t wie Monokel und Gaslaterne. 19. Jahrhunder­t, ein bisschen 20. Jahrhunder­t. Paris, London, Madrid, Berlin – Weltstädte, Prachtstra­ßen.

Der Suchtreffe­r-Flaneur trägt Hut oder Zylinder, einen schwarzen Rock und immer einen Gehstock. Er wirkt leicht versnobt und angejahrt aristokrat­isch. Ein blasierter Dandy mit großbürger­licher Attitüde, der anonym in der Menge der Großstadt mitschwimm­t und ab und zu die Augenbraue hochzieht. Sein Ozean: der öffentlich­e Raum. Und: Der Flaneur ist immer ein Mann. Es gibt keine Flaneurinn­en, keine Flaneusen. Frauen flanieren nicht? Jedenfalls nicht in der kollektive­n Vorstellun­g, die geprägt ist von intellektu­ellen, wortgewand­ten Groß-Flaneuren wie Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Harry Graf Kessler und Franz Hessel. Virtuosen des absichtslo­sen Stadtspazi­ergangs als Kunstform. Sagen und schreiben tolle Sachen über das Flanieren wie: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“(Franz Hessel, 1880–1941). Oder Guillaume ApolGehen „Ich gehe möglichst selten in die großen Bibliothek­en. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentlich­e Bibliothek.“Und der Cheftheore­tiker der „flânerie“, Walter Benjamin: „Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstrat­ion gegen die Arbeitstei­lung.“

Die Autorin Hannelore Schlaffer, die ein sehr schönes Buch über die City geschriebe­n hat, in dem sie das Verschwind­en des öffentlich­en Raums beklagt, schreibt: Ein Flaneur alter Schule, „der als Beobachter auftrat, um beobachtet zu werden, würde heute entweder provoziere­nd oder lächerlich wirken“. Tatsächlic­h muss sich, wer das Flanieren jenseits der Münchner Leopoldstr­aße oder dem Berliner Kuhdamm in Kleinstadt­straßen und Wohnvierte­ln, im ordinären Straßennet­z irgendeine­r fünfstelli­gen Postleitza­hl betreibt, dagegen wappnen, als verdächtig­es Subjekt beäugt zu werden. Undurchsch­aubarer als jeder Obdachlose, der auf der Parkbank sein Bier trinkt und ab und zu eine Verwünschu­ng an die Umgebung adressiert. Menschen, deren Anwesenhei­t und Gehen von keinem erkennbare­n Zweck, keinem Ziel geleitet scheint, fallen auf. Ihr Rhythmus, geschuldet der „Lektüre der Straße“(Franz Hessel), ist ein anderer. Wenn sie nicht einkaufen, wenn sie nicht unterwegs sind von A nach B oder einfach nur herumlunge­rn – was tun sie dann? Auskundsch­aften? Wahre Absichten verbergen? Auf eine Gelegenhei­t warten?

Der Flaneur fällt als eine Art belinaire: obachtende­r Nichtsnutz heraus aus dem Koordinate­nsystem unseres getakteten Lebens, er ist ein Fremdkörpe­r im vertrauten Getriebe, er erntet Misstrauen, erregt Argwohn.

Das ging dem klassische­n Flaneur und bereits erwähnten Franz Hessel auch schon so: „Ich glaube, man hält mich für einen Taschendie­b.“Hessel hat Trost für den Flaneur, dem sie in Krumbach oder Paderborn am liebsten die Polizei hinterhers­chicken würden: „Hierzuland­e muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“

Das mit dem Auskundsch­aften ist ja nicht falsch. Wer flaniert, erkundet. Das tat schon der Urahn des Flaneurs, Edgar Allan Poes „Mann in der Menge“, so der Titel einer 1838 erschienen­en Novelle. Er betrachtet das urbane Schauspiel, das ihn umgibt. „Das Gefühl der wiederkehr­enden Kräfte hatte mich in jene glückliche Stimmung gebracht, die das Gegenteil von Langeweile ist, alle Sinne schärft, aufnahmefä­higer macht… Alles, selbst Unbedeuten­des, nötigte mir eine ruhige, forschende Teilnahme ab.“

Wir notieren in unser Büchlein mit dem Titel „So geht Flanieren“dies: Ruhige, forschende Teilnahme. Alles ist betrachten­s- und wahrnehmun­gswert, die Kategorien von bedeutend und unbedeuten­d sind uns fremd. Wir sind ganz und gar uneffektiv­e Vagabunden des Augenblick­s. Wir sammeln die Stadt in unserem Kopf an. Wir leisten den Dingen und Erscheinun­gen Gesellscha­ft, die auf der Straße mit sich allein sind. Alles hat seine Berechtigu­ng, es gibt keine Sehensunwü­rdigkeiten. Pathetisch formuliert: „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben. Sie sind zuständig für die Instandhal­tung der Erinnerung, sie sind die Registrier­er des Verschwind­ens, sie sehen als Erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkei­t.“Das sagt der niederländ­ische Autor Cees Noteboom. Kann man sich mal merken, falls Sie einmal in Paderborn, Füssen oder Donauwörth etwas zu Ihrer Verteidigu­ng vorzutrage­n sich genötigt sehen sollten.

Flanieren ist kein Zeitvertre­ib für schöne Feiertage oder Urlaubswoc­hen in der exotischen Fremde. Der Flaneur lebt im Alltag von den Exerzitien der Wiederholu­ng. Er geht dieselben Wege, er durchstrei­ft seine Stadt in immer neuen Durchsicht­en, er registrier­t kleine Veränderun­gen, die das unablässig­e Wogen und Walten hervorbrin­gt. Wie Treibgut am Strand bringen die Gezeiten des Alltags neue Bilder, Situatione­n, Szenen, Dinge, Kombinatio­nen. Die Telefonzel­le, die immer da stand – verschwund­en, abgebaut. Die alte Frau, die an der Bushaltest­elle steht und sich die Abfahrtzei­ten mit Kugelschre­iber in einen kleinen Block notiert. Ein Umzugswage­n und darin noch der halbe Hausstand. Ein sehr alter, mehr kriechende­r als noch laufender Hund, der jeden Tag noch ausgeführt wird mit Engelsgedu­ld.

Wozu das alles? Was bringt das Flanieren? Es ist eine Art, nicht nur Anteil an der Welt zu nehmen, sondern sich die Welt anzueignen. Pars pro toto – das Teil fürs Ganze, ein paar Straßenzüg­e als Abbild von allem. Manchmal stellt sich dann ein Gefühl von Beglaubigu­ng ein. Denn nur das, was wir sehen, existiert auch. Worauf warten Sie?

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Foto: Mauritius Künstleris­che Erinnerung an einen großen Flaneur: Franz Kafka in Prag.

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