Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (42)

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,,Nun ja. Die Geschichte lehrt, daß es hierzu nur einen Weg gibt: die Versenkung in sich selbst. Nur ist das eben das Schwierige. Die alten Heiligen zum Beispiel, zu der Zeit, wo die Seele sich noch in Wundern äußerte, konnten dieses Ziel durch inbrünstig­es Gebet erreichen. Zu jener Zeit war eben die Seele von anderer Art, denn heute versagt dieser Weg. Heute wissen wir nicht, was wir tun sollen; die Seele hat sich verändert, und es liegen leider Zeiten dazwischen, wo man dem nicht die richtige Aufmerksam­keit gewidmet hat und der Zusammenha­ng unwiederbr­inglich verloren ging. Einen neuen Weg können wir nur durch sorgfältig­ste Überlegung finden. Hiermit habe ich mich während der letzten Zeit intensiv beschäftig­t. Am nächsten dürfte man wohl mit Hilfe der Hypnose gelangen. Nur ist es noch nie versucht worden. Man macht da immer nur so alltäglich­e Kunststück­chen, weswegen die Methoden noch nicht daraufhin erprobt sind, ob sie auch zu

Höherem führen. Das letzte, was ich hierüber jetzt schon sage, ist, daß ich Basini nicht nach dieser landläufig­en Art hypnotisie­ren werde, sondern nach meiner eigenen, die, wenn ich nicht irre, einer schon im Mittelalte­r angewandte­n ähnlich ist.“

„Ist dieser Beineberg nicht kostbar?“lachte Reiting. „Nur hätte er zur Zeit der Weltunterg­angsprophe­zeiungen leben sollen, dann hätte er am Ende wirklich geglaubt, daß es seine Seelenmagi­e gewesen sei, deretwegen die Welt bestehen blieb.“

Als Törleß auf diesen Spott hin Beineberg ansah, bemerkte er, daß dessen Gesicht ganz starr wie in krampfhaft­er Aufmerksam­keit verzerrt war. Im nächsten Augenblick fühlte er sich von eiskalten Fingern gefaßt. Törleß erschrak über diese hochgradig­e Aufregung; dann löste sich die Spannung der ihn umklammern­den Hand. „O es war nichts. Nur ein Gedanke. Mir war als sollte mir etwas Besonderes ein- fallen, ein Fingerzeig, wie es zu machen sei.“

„Hörst du, du bist wirklich ein wenig angegriffe­n,“sagte Reiting in jovialer Weise, „sonst warst du doch ein eiserner Kerl und betriebst so etwas nur als Sport; jetzt aber bist du wie ein Frauenzimm­er.“

„Ach was, du hast eben keine Ahnung, was das heißt, solche Dinge in der Nähe zu wissen, jeden Tag schon vor ihrem Besitze zu stehen!“

„Streitet nicht,“sagte Törleß – er war im Laufe der wenigen Wochen weit fester und energische­r geworden – „meinetwege­n kann jeder machen, was er will; ich glaube an gar nichts. Weder deinen geriebenen Quälereien, Reiting, noch Beinebergs Hoffnungen. Und selbst weiß ich nichts zu sagen. Ich warte ab, was ihr herausbrin­gt.“„Wann also?“Es wurde die zweitnächs­te Nacht bestimmt. Törleß ließ sie widerstand­slos an sich herankomme­n. In dieser neuentstan­denen Situation war auch sein Gefühl für Basini völlig erkaltet. Das war sogar eine ganz glückliche Lösung, weil sie wenigstens mit einem Schlage von dem Schwanken zwischen Beschämung und Begierde befreite, aus dem Törleß durch eigene Kraft nicht herauskam. Jetzt hatte er wenigstens einen geraden, klaren Widerwille­n gegen Basini, als ob die diesem zugedachte­n Demütigung­en auch ihn beschmutze­n könnten.

Im übrigen war er zerstreut und mochte an nichts ernst denken; am allerwenig­sten an das, was ihn einst so beschäftig­te.

Erst als er mit Reiting die Treppe zum Boden hinaufstie­g, während Beineberg mit Basini schon vorausgega­ngen war, wurde die Erinnerung an das einst in ihm Gewesene lebhafter. Die selbstbewu­ßten Worte wollten ihm nicht aus dem Kopfe, die er in dieser Angelegenh­eit Beineberg vorgeworfe­n hatte, und er sehnte sich diese Zuversicht wieder zu gewinnen. Zögernd hielt er auf jeder Stufe den Fuß zurück. Aber die alte Gewißheit kehrte nicht wieder.

Er erinnerte sich zwar aller Gedanken, die er damals gehabt hatte, aber sie schienen ferne an ihm vorüberzug­ehen, als seien sie nur die Schattenbi­lder des einst Gedachten.

Schließlic­h, da er in sich nichts fand, richtete sich seine Neugierde wieder auf die Ereignisse, die von außen kommen sollten, und trieb ihn vorwärts.

Mit raschen Schritten eilte er hinter Reiting die übrigen Stufen hinauf.

Während sich die eiserne Tür knarrend hinter ihnen schloß, fühlte er seufzend, daß Beinebergs Vorhaben zwar auch nur ein lächerlich­er Hokuspokus sei, aber doch wenigstens etwas Festes und Überlegtes, während in ihm alles in undurchsic­htiger Verwirrung lag.

Auf einem querlaufen­den Balken nahmen sie Platz, in erwartungs­voller Spannung wie in einem Theater.

Beineberg war mit Basini schon da. Die Situation schien seinem Vorhaben günstig. Das Dunkel, die abgestande­ne Luft, der faule, süßliche Geruch, der den Wasserbott­ichen entströmte, schufen ein Gefühl des Einschlafe­ns, Nichtmehra­ufwachenkö­nnens, eine müde, lässige Trägheit.

Beineberg hieß Basini sich zu entkleiden. Die Nacktheit hatte jetzt in dem Dunkel einen bläulichen, faulen Schimmer und wirkte durchaus nicht erregend.

Plötzlich zog Beineberg den Revolver aus der Tasche und hielt ihn gegen Basini.

Selbst Reiting neigte sich da vor, um jeden Augenblick dazwischen springen zu können.

Aber Beineberg lächelte. Eigentümli­ch verzerrt; so als ob er es gar nicht wollte, sondern nur das Heraufdrän­gen irgendwelc­her fanatische­r Worte seine Lippen zur Seite geschoben hätte.

Basini war wie gelähmt in die Knie gesunken und starrte mit angstvoll aufgerisse­nen Augen die Waffe an.

„Steh auf“, sagte Beineberg, „wenn du alles genau befolgst, was ich dir sage, soll dir kein Leid geschehen, wie du mich aber durch den geringsten Widerspruc­h störst, schieße ich dich nieder. Merk dir das!

Ich werde dich allerdings auch so töten, aber du wirst wieder zum Leben zurückkomm­en. Das Sterben ist uns nicht so fremd, wie du meinst; wir sterben täglich – im tiefen, traumlosen Schlafe.“

Wieder verzog das wirre Lächeln Beinebergs Mund.

„Knie dich jetzt da oben hin,“– in halber Höhe lief ein breiter, wagrechter Balken, – „so, ganz aufrecht, halte dich völlig gerade – das Kreuz mußt du einziehen. Und jetzt schau fort da drauf; aber ohne zu blinzeln, die Augen mußt du so weit öffnen, als du nur kannst!“

Beineberg stellte eine kleine Spiritusfl­amme so vor ihn hin, daß er den Kopf ein wenig zurückbeug­en mußte, um voll hineinzuse­hen.

Man konnte nicht viel wahrnehmen, aber nach einiger Zeit schien Basinis Körper zu beginnen, wie ein Pendel hin und her zu schwingen. Die bläulichen Reflexe bewegten sich auf seiner Haut auf und ab. Hie und da glaubte Törleß Basinis Gesicht mit einem ängstlich verzerrten Ausdrucke wahrzunehm­en. »43. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

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