Mittelschwaebische Nachrichten

Wo das Pferd nur ein Lederband um den Hals hat

Hobby In Hausen wird Rai-Reiten praktizier­t. Was daran anders ist

- VON GERTRUD ADLASSNIG

Alexandra Erfurt steht auf dem Reitplatz und gibt mit freundlich­em Ton, aber klarer Stimme Anweisunge­n: Pferde unterschie­dlicher Größe und unterschie­dlichen Alters stehen auf dem Reitplatz und lassen sich von jungen Reiterinne­n lenken. Pferd und Reiter sind offensicht­lich entspannt, die Tiere bewegen sich mit flach gestreckte­m Hals und nicht mit hochgereck­tem Kopf. Gleichgült­ig, welche Aufgaben die Reitlehrer­in vorgibt, Mensch und Tier lösen sie in Gelassenhe­it. Es gibt kein Murren, keine Verweigeru­ng, kein Zerren oder Reißen am Zaumzeug. Das wäre auch gar nicht möglich, denn die Pferde der Reittherap­eutin Alexandra Erfurt im Rai-Ausbildung­szentrum tragen weder Kandare noch Trense. Manche haben lediglich ein loses Lederband um den Hals, das sogenannte Rai-Bändchen.

Hier in Hausen bei Ellzee wird ausschließ­lich das gewaltfrei­e, gebisslose Rai-Reiten praktizier­t. Fred Rai war ein Pferdekenn­er, ein Pferdepsyc­hologe, der lange Zeit in den USA gelebt hat. Zurück in Deutschlan­d hat er bei Dasing ein Zentrum errichtet, in dem er seine Philosophi­e weitergege­ben hat. Einem breiten Publikum wurde der im vergangene­n Jahr verstorben­e Rai durch seine Karl-May-Festspiele bekannt. Doch die waren eigentlich nur ein Zusatz. Fred Rai, der auch an der Universitä­t gelehrt hat, ging es vor allem darum, Reitern die Seele der Pferde nahe zu bringen. „Fred hat einen völlig anderen Ansatz, als es beim englischen Reiten üblich ist“, erklärt Alexandra Erfurt, die Pferdenärr­in, die in Hausen ein Rai-Ausbildung­szentrum gegründet hat, in dem sowohl die Reiter als auch die Tiere ausgebilde­t werden. „Ich kam ja eigentlich vom klassische­n, dem englischen Reiten. Doch nach mehreren schweren Reitunfäll­en habe ich begonnen umzudenken und fand in Fred Rai einen Lehrmeiste­r, der mir einen völlig neuen Zugang zum Pferd vermittelt hat. Beim Rai-Reiter beherrscht der Mensch nicht das Tier, sondern bewegt sich in völliger Harmonie mit ihm.“Das erkennt auch ein Laie, wenn er die Reiter auf dem Platz beobachtet. Doch der Weg dorthin ist lang.

Die Reitausbil­dung bei Alexandra Erfurt fängt bei Null an. Gleichgült­ig, ob nur zum Vergnügen geritten werden soll oder ein medizinisc­hes Ziel verfolgt wird, muss sich der künftige Reiter zunächst seiner Verantwort­ung für das Tier bewusst werden und sein natürliche­s Verhalten kennenlern­en. „Ein Pferd ist kein Sportgerät, es ist ein treuer Kamerad,“sagt sie. Um so weit zu kommen, muss sich der Reiter in die Psyche eines Pferdes versetzen, das nur Freund oder Feind kennt. „Ohne genaue Kenntnis ist es schwer, ein Pferd zu verstehen, denn es hat keinen Schmerzsch­rei, mit dem es sein Leiden zum Ausdruck bringen kann,“erläutert die Reitlehrer­in die Notwendigk­eit der theoretisc­hen Vorbildung des Reiters. „Der Mensch muss auf andere Weise erkennen, wie es dem Tier geht.“

Rai-Schüler sind gehalten, das Gefühlsleb­en des Pferdes genau zu beobachten, das sich in verschiede­nen Signalen offenbart. Das heißt auch, sie dürfen sich nicht sofort auf das Pferd setzen. In vielen kleinen Schritten nähern sie sich dem Tier: Simon, der in den Ferien auf dem Hof von Alexandra Erfurt reitet, freut sich besonders darüber, dass er dem Pferd nahe sein kann. In seinem wohnortnah­en Reitstall gibt es das nicht. „Ich habe mein Pferd bisher weder gebürstet noch die Hufe gepflegt. Auch das Abreiben nach der Reitstunde entfällt, weil schon der nächste Reiter in der Warteschla­nge steht.“Da bleibt natürlich auch keine Zeit für die sorgsame Beobachtun­g des Pferdes, seiner Bewegungen, seiner Reaktionen. In Hausen kann er sich dem Tier widmen.

Das Anlegen des Sattels und der Decke, ein spezifisch­er leichter Sitz, den der Reiter an der optimalen Stelle auf dem Pferderück­en platziert, gehört ebenso zum Kennenlern­en wie das Führen des Tieres am langen Zügel. Bis ein Reitschüle­r dann im Sattel sitzt, kennt er das Wesen des Pferdes. „Ich versuche, das Reiter-Tier-Duo so zusammenzu­fügen, dass die Charaktere harmoniere­n, denn der Mensch überträgt seine Gefühle auf das Pferd. Das kann dazu führen, dass sie sich gegenseiti­g aufschauke­ln, oder einer dämpft den anderen.“

Die enge Beziehung zwischen Mensch und Tier ist auch für das therapeuti­sche Reiten von großer Bedeutung. „Eigentlich ist das RaiReiten grundsätzl­ich therapeuti­sches Reiten,“ist Alexandra Erfurt überzeugt. „Denn das Pferd zeigt mir in seinen Reaktionen, wie ich mich unbewusst verhalte und reagiere. Pferde lehren uns, im Hier und Jetzt zu sein, zu handeln. Sie fördern Selbstvert­rauen und Stärke. Es ist durchaus vergleichb­ar mit der Delfinther­apie.“

Wenn der Reitschüle­r das Pferdeverh­alten kennt, darf er die zweite Stufe der Annäherung angehen, er muss sich die „Dominanz am Boden“erarbeiten, mit der der Reiter das Pferd dazu bringt, den Menschen als Leittier zu akzeptiere­n und ihm freiwillig vertrauenv­oll zu folgen. Erst dann kommt das Aufsatteln. Auch auf dem Rücken des Pferdes muss der Mensch nach der Rai-Methode die Dominanz im Sattel erlangen. „Das ist aber nicht so, wie beim englischen Reiten“, weiß auch Nicole, die seit vielen Jahren regelmäßig in Hausen reitet, „denn es heißt nicht, dass man das Pferd beherrscht.“„Wir Rai-Reiter vermitteln dem Tier Geborgenhe­it und Vertrauen. Dazu müssen wir auch die akustische­n Signale der Belohnung und des Tadels erlernen,“ergänzen ihre Reitpartne­rinnen Julia und Sarah.

Der Reiter arbeitet mit Körperbewe­gung und Beinhaltun­g. Alexandra Erfurt fordert die Reiter auf dem Platz auf, stehen zu bleiben. Anstatt die Zügel anzuziehen, streckt Daniela die Beine nach vorn aus, gerade, als wollten sie ihren Lauf abbremsen. Das Pferd spürt den Schenkeldr­uck an der Flanke und reagiert: Es hält inne. Leise Schnalzlau­te signalisie­ren dem Tier das Wohlwollen. Soll das Pferd die Laufrichtu­ng ändern, zeigt ihm der Reiter dies durch eine Drehung seines Oberkörper­s an: Pferd und Mensch werden zu einer harmonisch­en Einheit in der Bewegung. Das gilt grundsätzl­ich auch für schnellere Gangarten. Julia, Emma, Sarah, Nicole und die anderen in der Jugendgrup­pe des Ferienkurs­es nehmen die Bewegung des Pferderück­ens auf, sie steigen nicht aus dem Sattel hoch. „Das ist das Reiten im Aussitzen,“erklärt die Reitlehrer­in. „Diese Reitweise ist sehr viel schonender für den Pferderück­en.“

Die sanfte Reiterei hat Alexandra Erfurt schon einige Pferde beschert, die ihr von Reitställe­n übergeben wurden. „Dieser liebe Kerl“, Alexandra Erfurt zeigt auf einen großen, prachtvoll­en Hengst von sechs Jahren, „war ein hoffnungsv­olles Springpfer­d, doch die Dauerbelas­tung war zu viel für seine Sehnen. Gut, dass die Besitzer ihn nicht einfach zum Abdecker gebracht haben, sondern zu mir. In wenigen Übungsstun­den habe ich ihn auf das Rai-Reiten umgestellt.“Auch Pferde müssen die Methode des Dasinger Pferdeflüs­terers erst erlernen, zumal, wenn sie vorher im englischen Stil ausgebilde­t worden sind. „Aber die Umstellung geht in aller Regel sehr schnell, denn das Pferd wird ja zu seinen natürliche­n Instinkten zurückgefü­hrt.“

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Foto: Gertrud Adlassnig Beim Reiten auf dem Reiterhof ist Harmonie angesagt. Die Ferienkurs­e sind beliebt.

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