Mittelschwaebische Nachrichten
SPD und CDU fallen in Berlin auf historisches Tief
Große Koalition abgewählt. Kommt jetzt Rot-Rot-Grün? AfD wieder mit zweistelligem Ergebnis. FDP kehrt zurück
Berlin/Augsburg Die Hauptstadt Berlin bekommt eine neue Regierung. Nach deutlichen Verlusten von SPD und CDU wird sich Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) neue Koalitionspartner suchen müssen. Vieles spricht jetzt für ein rot-rot-grünes Dreierbündnis der SPD mit der Linken und den Grünen im Berliner Roten Rathaus. Wie bei allen vorangegangenen Landtagswahlen hieß der Hauptgewinner AfD: Die noch relativ junge Partei erzielte auf Anhieb mehr als zehn Prozent.
Für SPD und CDU war es das schlechteste Wahlergebnis bei Berliner Abgeordnetenhauswahlen seit 1950. Nach Hochrechnungen der ARD verloren die Sozialdemokraten fast sieben Prozentpunkte gegenüber 2011 und kommen nur noch auf 21,6 Prozent. Die Berliner SPD wäre damit der schwächste Wahlsieger aller Zeiten bei überregionalen Wahlen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die CDU rutschte erstmals unter 20 Prozent (minus 5,7) und erreichte nur noch 17,6 Prozent. Damit dürfte nach Einschätzung von Beobachtern auch der politische Druck auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steigen. Hinter der Union folgen nahezu gleichauf die Linke (15,7 Prozent), die ihr Ergebnis von 2011 um vier Punkte verbessern konnte, und die Grünen mit 15,2 Prozent (minus 2,4).
Während die FDP nach fünfjähriger Abwesenheit mit 6,7 Prozent ins Abgeordnetenhaus zurückkehren darf, beendeten die Wähler das kurze Gastspiel der Piratenpartei im Parlament wieder: Sie scheiterte mit 1,7 Prozent (minus 7,2) klar an der Fünf-Prozent-Hürde. Die AfD kam bei ihrer ersten Abgeordnetenhauswahl auf 14,1 Prozent. Die Populisten sind nun in zehn von 16 Länderparlamenten vertreten. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 67 Prozent und war damit deutlich höher als 2011 (60,2 Prozent).
In einer ersten Reaktion betonte SPD-Chef Sigmar Gabriel, „Berlin bleibt sozial und menschlich anständig“. Dies sei das wichtigste Ergebnis des Wahlabends. CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel nannte das Abschneiden seiner Partei absolut unbefriedigend: „Die Wählerinnen und Wähler haben der Großen Koalition einen deutlichen Denkzettel verpasst.“Linken-Vorsitzende Katja Kipping bezeichnete das Ergebnis als ein „großartiges Signal“. Das mache „Mut für linke Mehrheiten“. Grünen-Chef Cem Özdemir sah die Wahl als Regierungsauftrag für seine Partei an. „Die Leute wollen eine seriöse Regierung, wir können das.“AfD-Chef Jörg Meuthen begründete den Wahlerfolg damit, dass seine Partei immer die Themen spiele, die die Leute interessieren. (mit dpa)
Berlin, wat haste dir dabei jedacht? Ja, dein neues Parlament ist mit seinen sechs Fraktionen so schillernd-bunt und widersprüchlich wie du selbst. Aber, mal ehrlich: Jeht dat jut?
Die SPD als stärkste politische Kraft in der Hauptstadt hat inzwischen nicht einmal mehr ein Viertel der Wähler hinter sich. Das reicht zwar noch, um eine rot-rot-grüne Koalition anzuführen, die aber wird um einiges instabiler sein als die Große Koalition, die der Regierende Bürgermeister Michael Müller partout nicht fortsetzen wollte.
Unter anderen Umständen, in einem anderen Bundesland hätte ein Bündnis, das drei Milliarden Euro an Schulden abbaut und sogar kleine Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet, beste Aussichten auf eine weitere Legislaturperiode gehabt. Berlin aber tickt anders – das zeigt auch die Wahl zum neuen Abgeordnetenhaus. Mit ihr geht die Macht aller Voraussicht nach an drei Parteien, die sich viel zu ähnlich sind, um eine Koalition der ausgleichenden Interessen zu bilden.
Alle drei stellen das Verteilen vor das Erwirtschaften, alle drei vertrauen vor allem auf die Regelungskraft des Staates und nicht auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung – und alle drei werden genau dafür gewählt. Jeder sechste Berliner lebt heute in irgendeiner Form von Vater Staat, von Arbeitslosengeld oder Hartz IV, von Bafög, Sozialhilfe oder der Grundsicherung im Alter. So gesehen ist es schon eine kleine Sensation, dass die FDP im subventionsverwöhnten Berlin überhaupt den Sprung zurück ins Parlament geschafft hat, wenn auch mit einem wenig liberalen Thema: Dem Kampf für den Weiterbetrieb des Flughafens Tegel.
Die Stadt wächst – und mit ihr der Berg an Problemen. Das Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist viel zu knapp, der Reformstau in den Schulen, im Nahverkehr und im Straßennetz gewaltig, die Verwaltung je nach Sichtweise überlastet oder überfordert. Die Zustände am Landesamt für Gesundheit und Soziales, das vor dem Andrang der Flüchtlinge kapitulierte, waren in gewisser Weise ja symptomatisch: Was im Rest der Republik wie selbstverständlich funktioniert, geht in Berlin wie selbstverständlich schief. Der Bau eines Flughafens. Das Sanieren einer Oper. Das Ansiedeln neuer Unternehmen. Andere Hauptstädte wie Paris oder London sind die Wirtschaftszentren ihrer Länder. Berlin hängt am Tropf der anderen Bundesländer.
Eine Allianz aus drei linken Parteien ist in dieser Situation Gift für die Stadt. Sie werden, das darf man annehmen, vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Das Klima zwischen den Sozialdemokraten und den Grünen ist seit den gescheiterten Koalitionsverhandlungen vor fünf Jahren nicht wirklich besser geworden – und auch die Autorität des Regierenden Bürgermeisters ist durch das blamable Wahlergebnis angekratzt. Nicht einmal mehr 25 Prozent für die SPD, in der Stadt von Ernst Reuter und Willy Brandt? Undenkbar lange Zeit.
Dass die Große Koalition so miserabel abgeschnitten hat, liegt allerdings nicht nur an der CDU, dem allgemeinen Verdruss über die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und ihrem wenig populären Spitzenkandidaten Frank Henkel. Es war auch Müllers leicht beleidigte, gerne bei anderen die Schuld suchende Art, die beide Regierungsparteien zusammen weit über zehn Prozentpunkte gekostet hat. Dieser Mangel an Mannschaftsgeist ist das größte Problem der Berliner SPD, das sie auch durch den Austausch von Koalitionspartnern kaum lösen wird. Politisch mögen die Schnittmengen in einem Dreier mit Grünen und Linken deutlich größer sein als mit der etwas biederen CDU. Ein Bürgermeister aber, der jedem misstraut, ist für jede Koalition eine Hypothek.
Müller mangelt es an Mannschaftsgeist