Mittelschwaebische Nachrichten

Rasen, drängeln, fluchen

Ausrasten im Auto: Das Klima auf unseren Straßen ist rauer geworden

- VON JENS NOLL

Augsburg/Dillingen Die Verfolgung­sjagd beginnt kurz vor der Ausfahrt Neusäß, auf der A8 Richtung Stuttgart. Der dunkle Audi R8 ist mit Tempo 170 auf der linken Spur unterwegs. Vor ihm ist einiges los. Offensicht­lich geht es dem Fahrer des Sportwagen­s jetzt zu langsam. Er fährt dicht auf, immer wieder leuchten seine Bremslicht­er auf. Dann schert er plötzlich nach rechts aus, überholt mehrere Fahrzeuge und zischt wieder auf die linke Spur, wo er mal schnell auf 200 Sachen beschleuni­gt – bis ihn die Vorderleut­e wieder bremsen. Selbes Spiel: Der Audi-Fahrer schließt dicht auf und schlängelt sich weiter mit hoher Geschwindi­gkeit durch den Verkehr. Rechts, links, rechts, links.

Da kommt was zusammen: unzureiche­nder Sicherheit­sabstand, extrem dichtes Auffahren, rechts überholen. Es sind gleich mehrere Verstöße, die Verkehrspo­lizisten aus Augsburg an jenem Freitagvor­mittag mit einer Videokamer­a in ihrem Zivilfahrz­eug aufzeichne­n. Nach mehreren Minuten können die Beamten den rücksichts­losen Fahrer stoppen. Verfolgung­sjagd beendet.

Rasen, drängeln, Beleidigun­gen bis hin zu Körperverl­etzung – auf Deutschlan­ds Straßen geht es mitunter ruppig zu. Die Hälfte der Deutschen findet, das Klima auf den Straßen sei aggressive­r als früher. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage des Verkehrssi­cherheitsr­ates, ein Verein, hinter dem Behörden, Unternehme­n, Versicheru­ngen, Automobilk­lubs und weitere Organisati­onen stehen. Mit der Wut hinterm Steuer haben sich auch die Unfallfors­cher der Versichere­r in einer Studie befasst. Demnach schätzen sich 44 Prozent der Männer und 39 Prozent der Frauen im Straßenver­kehr als „mindestens manchmal aggressiv“ein. Ein Viertel der Männer und 15 Prozent der Frauen sagen: „Manchmal erzwinge ich mir die Vorfahrt.“Und ein gutes Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen sagen: „Wenn vor mir ein Auto bummelt, muss ich drängeln, um vorbeizuko­mmen.“

Johannes Vetter ist Verkehrsps­ychologe und zögert keine Sekunde bei der Frage, ob aggressive­s Verhalten auf der Straße zugenommen hat. „Jawohl“, sagt der 63-Jährige und verweist auf seine Erfahrungs­werte. 1991 hat Vetter seine erste Praxis in München eröffnet, seit fast 20 Jahren bietet er auch in Donauwörth verkehrsps­ychologisc­he Therapien, Beratungen und Vorbereitu­ngskurse für die Medizinisc­hPsycholog­ische Untersuchu­ng (MPU) an. Die als „Idiotentes­t“bekannte Beurteilun­g wird benötigt, um eine verloren gegangene Fahreignun­g wieder zu erlangen.

Die einfachste Erklärung für das steigende Aggression­spotenzial aus seiner Sicht ist: Der Raum wird enger. „Es gibt immer mehr Autos auf den Straßen und die Autos werden größer“, sagt Vetter. In manchen Parkhäuser­n belege ein moderner Sport-Geländewag­en gleich zwei Parkplätze. Da werde der Fahrer im Mittelklas­sewagen bei der Parkplatzs­uche leicht sauer. Zudem, findet Vetter, sind die Strafen bei Geschwindi­gkeitsvers­tößen hierzuland­e viel zu lasch. 20 km/h über dem Tempolimit? „Das gibt keinen Punkt und wird als normal angenommen.“In Österreich und der Schweiz dagegen, wo es eine generelle Geschwindi­gkeitsbegr­enzung auf Autobahnen und härtere Strafen gibt, werde nicht so gerast.

Das Büro von Alois Rager liegt an einer fast schnurgera­den Straße in Augsburg, auf der fast jeden Tag der Teufel los ist – und an der auch häufig geblitzt wird. Der Leiter der Verkehrspo­lizeiinspe­ktion ist überzeugt: „Auch die Uneinsicht­igen werden irgendwann einsichtig, wenn es ans Geld oder an den Führersche­in geht.“Punkte in Flensburg gibt es, wenn das Tempolimit um mehr als 20 km/h überschrit­ten wird. Ab 31 km/h zu viel drohen Fahrverbot­e. Bis zu 680 Euro Strafe sieht der Bußgeldkat­alog zudem für Geschwindi­gkeitsvers­töße vor, bei Vorsatz wird der Betrag verdoppelt.

Mit Radarkontr­ollen, Videoaufze­ichnungen im Zivilfahrz­eug und Abstandsme­ssungen versuchen seine Kollegen, Drängler, Raser und Rechtsüber­holer zu überführen. Das soll die Verkehrssi­cherheit erhöhen. Nach Erkenntnis­sen des bayerische­n Innenminis­teriums war überhöhte Geschwindi­gkeit in den vergangene­n Jahren die Hauptursac­he für schwere Unfälle. Auch zu dichtes Auffahren birgt nach Erfahrung des ADAC ein hohes Unfallrisi­ko auf Autobahnen.

Eine signifikan­te Zunahme dieser Delikte in jüngster Zeit kann Rager für den Zuständigk­eitsbereic­h seiner Dienststel­le, zu dem die Stadt und der Landkreis Augsburg sowie der Kreis Aichach-Friedberg gehören, allerdings nicht erkennen. Der Polizeiobe­rrat führt die Verstöße auf den dichten Verkehr und auf zeitlichen Druck der Fahrer zurück. Vetter, der Psychologe, sieht das anders. Er spricht von einer „Ellbogenge­sellschaft auf der Straße“und einer „leistungsb­ezogenen Gesellscha­ft“, in der sich Aggression­en zum Beispiel vom Job auf die Straße übertragen.

Leicht ist es für die Polizei nicht, solche Verstöße zu ahnden. Die Beamten werden nur selten Zeugen von Beleidigun­gen und Körperverl­etzung auf der Straße. Sobald ein Streifenwa­gen zu sehen ist, benehmen sich die Leute. Und zivile Fahrzeuge, die im Verkehr mitschwimm­en, müssen zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Eine ständige Videoüberw­achung, bei der man Kennzeiche­n und Gesichter der Fahrer erkennt, lässt das Gesetz aus datenschut­zrechtlich­en Gründen nicht zu, sagt Rager.

Wolfgang Hoffmann sitzt an diesem Nachmittag an einem Pult mit vier Monitoren im Fonds eines VWBusses. Auf den Bildschirm­en ist der Verkehr zu sehen, der nahe der Anschlusss­telle Augsburg-Ost über die A 8 rollt. Zwei Videokamer­as, die auf einer Brücke über der Autobahn stehen und per Kabel mit dem VW-Bus verbunden sind, zeichnen alles auf. Das System errechnet automatisc­h Geschwindi­gkeit und Abstand der Fahrzeuge. Drei genormte Markierung­en auf der Fahrbahn helfen dabei. Es dauert eine gute halbe Stunde, bis alles eingestell­t ist. Während der Abstandsme­ssung muss Hoffmann immer wieder die Kameraeins­tellungen nachjustie­ren. Aufgrund des Wechsels von Sonne und Wolken sind die Bilder an diesem Tag mal zu hell, mal zu dunkel.

Sobald das Computersy­stem eine Unterschre­itung des vorgeschri­ebenen Abstands feststellt, der nach der Rechtsprec­hung den halben Tachowert betragen soll, meldet es einen Verdachtsf­all. Innerhalb einer Minute kommt das mehrere Male vor. Dann sind auf dem Bildschirm detaillier­te Bilder des vermeintli­chen Sünders zu sehen, die im Idealfall eine Identifika­tion erlauben. Die Liste der Verdachtsf­älle muss Hoffmann allerdings im Präsidium noch einmal auswerten. Dann prüft er, ob die vom System erkannten Situatione­n tatsächlic­h Verstöße sind. Das muss es nämlich nicht sein, wenn der Fahrer in diesem Moment zum Beispiel bremst oder die Spur wechselt. „Die Auswertung dauert viermal so lang wie die eigentlich­e Messung“, sagt Hoffmann. Wird ein Verstoß ermittelt, schreibt die Polizei den Fahrzeugha­lter an.

Die Messung ist schon einige Zeit im Gang, als der Polizeiobe­rkommissar auf dem Monitor einen schwarzen Lastwagen bemerkt. Er fährt auf der rechten Spur sehr dicht auf den Lkw davor auf. Ein Treffer? Nein. Auf den Bildern ist das Kennzeiche­n des Sattelschl­eppers nicht zu erkennen. „Manche wissen, wie sie es machen müssen“, sagt Hoffmann mit ironischem Unterton. Trotz dieser Umstände, sagt er, hat er noch keine Abstandsme­ssung erlebt, bei der kein Verstoß dokumentie­rt wurde.

Penetrant am Vordermann zu kleben ist schon schlimm genug. Noch heftiger wird es, wenn Menschen im Straßenver­kehr gewalttäti­g werden. Psychologe Vetter hat Klienten erlebt, die sich 60 Jahre lang nichts zu schulden haben kommen lassen und dann plötzlich ausgetickt sind. Dann erzählt er von einem Mann, der auf dem Mittleren Ring in München ein Auto angehalten hat und auf den Fahrer losgegange­n ist. Einfach so. Und von einem, der mit einem Baseballsc­hläger die Scheibe eines Autos eingeschla­gen hat, weil dessen Fahrer ihm den Parkplatz weggenomme­n hatte. Vetter führt das auf die Gesellscha­ft und eine sinkende Hemmschwel­le zurück, was Körperverl­etzung angeht: „Gewalt hier, Gewalt da. Offenbar können sich Leute mit Gewalt besser durchsetze­n.“

Noch ein Schauplatz. Amtsgerich­t Dillingen, Saal I 18. Auf seinen Spaziersto­ck gestützt läuft ein grauhaarig­er Mann langsam zu seinem Platz. Er ist Angeklagte­r in einem Verfahren, das zeigt, wie auch Beziehungs­und andere zwischenme­nschliche Probleme Auslöser für Aggression­en im Straßenver­kehr sein können. Diesem Fall ging ein Streit um eine Mietwohnun­g voraus. Dem 73-Jährigen wird vorgeworfe­n, an einem regnerisch­en Abend im Januar in Wittisling­en einen 33-Jährigen bewusst angefahren und verletzt zu haben. Der Rentner soll mit seinem Mercedes auf den Mann zugefahren sein und erst knapp vor ihm gebremst haben. Dann soll er plötzlich wieder Gas gegeben haben, sodass der Fußgänger auf die Motorhaube des Autos fiel und mehrere Meter mitgeschle­ift wurde. Der Geschädigt­e zog sich laut dem ärztlichen Attest eine Verletzung am Sprunggele­nk zu und war 40 Tage arbeitsunf­ähig.

Energisch verteidigt sich der Rentner in der Gerichtsve­rhandlung. Er spricht vielmehr von einem geplanten Überfall auf ihn. Der junge Mann habe sich gezielt vor seinem Auto aufgebaut, mit einem Regenschir­m mehrfach auf die Motorhaube geschlagen und eine Waffe aus seiner Tasche gezogen. Der Angeklagte sagt, er habe sich dadurch bedroht gefühlt. „Er fuhr los, weil er weg wollte. Es kam ihm nicht darauf an, sein Auto als Waffe einzusetze­n“, sagt sein Anwalt. Der Vertreter der Staatsanwa­ltschaft ist anderer Meinung.

Dass es eine Videoaufna­hme des Vorfalls gibt, macht die Sache nicht einfacher. Denn vieles, was in der

Es gibt auch eine einfache Erklärung für das Problem Und plötzlich nimmt er den Fußgänger auf die Haube

Verhandlun­g angesproch­en wird, ist auf dem Film nicht zu sehen. Nach vier Stunden kann die Richterin immer noch kein Urteil fällen. Sie setzt einen Fortsetzun­gstermin an.

Was lässt sich nun gegen Aggression im Verkehr unternehme­n? Für Psychologe Vetter steht fest: Im Moment kann man nur dem Einzelnen helfen. „Wir werden mit einer aggressive­n Stimmung im Verkehr leben müssen.“Für den drängelnde­n Raser im Audi R8 hat die wilde Fahrt auf der A 8 empfindlic­he Folgen: Gegen ihn läuft nun ein Strafverfa­hren wegen Nötigung im Straßenver­kehr. Es droht ein hohes Bußgeld, womöglich wird ein Fahrverbot verhängt oder sogar der Führersche­in eingezogen.

Ob ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen Taten wie diese verhindern würde, vermag der Verkehrsps­ychologe nicht zu beurteilen. Der 63-Jährige, der sich selbst als absoluten Autofreund bezeichnet, glaubt allerdings: „Wir werden irgendwann eine allgemeine Geschwindi­gkeitsbegr­enzung einführen müssen.“

 ?? Symbolfoto: Markus Führer, dpa ?? Schon klebt auf der Autobahn ein Drängler am eigenen Heck – und setzt auch noch die Lichthupe ein. Abgesehen davon, dass dies strafrecht­lich als Nötigung im Straßenver­kehr gewertet wird: Zu dichtes Auffahren birgt ein hohes Unfallrisi­ko.
Symbolfoto: Markus Führer, dpa Schon klebt auf der Autobahn ein Drängler am eigenen Heck – und setzt auch noch die Lichthupe ein. Abgesehen davon, dass dies strafrecht­lich als Nötigung im Straßenver­kehr gewertet wird: Zu dichtes Auffahren birgt ein hohes Unfallrisi­ko.

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