Mittelschwaebische Nachrichten
Einen Riesenschritt gemacht
Das deutsche Team spielte in Rio vorne mit. Auch ein Allgäuer trug noch mal zur guten Bilanz bei. Die Professionalisierung des Behindertensports hat aber auch Schattenseiten
Rio de Janeiro Am Ende standen sie alle noch einmal auf dem Siegerpodest: Markus Rehm, der Star des Teams. Marianne Buggenhagen, die große, alte Dame des deutschen Behindertensports. Und auch Heinrich Popow, für den die Paralympics in Rio die letzten seiner erfolgreichen Karriere waren. „Wir paralympischen Athleten haben gezeigt, dass wir uns nicht hinter den olympischen Athleten verstecken müssen“, sagte Rehm, als er nach seinem Fazit zu den ersten Weltspielen des Behindertensports in Südamerika gefragt wurde.
Die deutsche Mannschaft hat in Rio gleich zwei Dinge erreicht. Sie hatte sportlichen Erfolg, denn dreimal Gold, viermal Silber und einmal Bronze am Abschlusswochenende steigerten das Gesamtergebnis auf 57 Medaillen (18/25/14). „Mit diesem sportlichen Abschneiden sind wir sehr zufrieden“, sagte der Chef de Mission, Karl Quade. Platz sechs in der Nationenwertung zeige, „dass wir in der Liga unseres Sports weiter vorne mitspielen“.
Seinen Beitrag zu diesem guten Abschneiden hat am Wochenende auch Thomas Brüchle geleistet. Zusammen mit Thomas Schmidberger bildete der Mann vom SV Deuchel- ried (Ortsteil von Wangen im Allgäu) das deutsche Para-TischtennisTeam. Erst im Finale mussten sich das Duo den Favoriten aus China mit 1:2 geschlagen geben. Die Deutschen hatten das Doppel gewonnen, Schmidberger dann sein Einzel verloren. Im entscheidenden zweiten Einzel lag Brüchle schon 2:0 nach Sätzen und 9:6 nach Punkten vorn, verlor dann aber auch noch. „Ich hatte das Spiel in der Hand“, ärgerte sich Brüchle. „Ich muss das Ding machen, da gibt es keine Entschuldigung.“
In den vergangenen elf Wettkampftagen hat sich im deutschen Team ein Generationenwechsel vollzogen. Popow und Buggenhagen haben den Behindertensport über Jahre geprägt. Gold im Weitsprung (Popow) und Silber beim Diskuswurf (Buggenhagen) bescherte beiden am Samstag einen erfolgreichen letzten Wettkampf.
„Diese Medaille hat einen großen Wert, weil es die letzte ist“, sagte die 63 Jahre alte Buggenhagen. Ihre imposante Karrierebilanz: Sieben Paralympics-Teilnahmen, neun Paralympics-Siege und 13 WM-Titel. An ihre Stelle sind Athleten wie Rehm oder Vanessa Low getreten, die nach ihrem Sieg im Weitsprung auch noch Silber über 100 Meter holte.
Um sich in der Wahrnehmung vieler Zuschauer vom Reha- zum Hochleistungssport zu wandeln, brauchten die Paralympics hochprofessionelle und auch gut vermarktbare Athleten wie Low, den Radsportler Vico Merklein und vor allem Rehm. Der gewann am Samstag seine zweite Goldmedaille in Rio. In Erinnerung bleiben wird davon vor allem ein Wert: 8,21 Meter im Weitsprung. Damit wäre der Mann mit der Unterschenkelprothese auch bei den Olympischen Spielen im August um eine Medaille mitgesprungen. „Die Leute sehen nicht mehr nur unsere Handicaps, sondern unsere Leistungen“, sagte Rehm. „Früher sind die Paralympics kaum wahrgenommen worden. Mittlerweile aber ist unsere Aufmerksamkeit gestiegen. Wir haben einen Riesenschritt gemacht.“
Dafür spricht: Mehr als zwei Millionen Zuschauer kamen in Rio zu den Wettbewerben. Diese wurden in mehr als 100 Ländern im Fernsehen übertragen. Beim deutschen TV-Publikum fanden die Paralympics allerdings etwas weniger Anklang als die Veranstaltungen 2008 und 2012. Durchschnittlich 0,49 Millionen Zuschauer verfolgten täglich die Übertragungen. Der Marktanteil betrug 6,8 Prozent. Zum Vergleich: Die Spiele 2008 in Peking verbuchten durchschnittlich 870 000 Zuschauer (8,4 Prozent) pro Sendung und die Veranstaltung 2012 in London 840000 (8,7 Prozent).
Weitsprung-Sieger Popow hat nach seinen letzten Paralympics vor allem eine Hoffnung: „Dass das alles zwischen Rio und Tokio 2020 nicht wieder in Vergessenheit gerät“, sagte er. „Wir haben so coole Athleten. Die zeigen super Leistungen, die kann man vorzeigen.“
Allerdings hat diese Entwicklung auch ihre Schattenseiten. 208 Weltrekorde vermeldete das Internationale Paralympische Komitee (IPC) vor den letzten sieben Entscheidungen in der vergangenen Nacht. Einige davon lassen sich durch die Professionalisierung des Behindertensports erklären, andere durch die Weiterentwicklung von Prothesen und anderem Material. Doch unter dem Strich bleibt Misstrauen. Das IPC hat in Rio große Lücken in seinem Anti-Doping-System eingeräumt. Niemand wisse, ob und wie viel in Ländern wie China oder Usbekistan kontrolliert werde. (dpa)