Mittelschwaebische Nachrichten
Der neue Justin Bieber
Was heißt heute noch „Live“-Konzert? Ein denkwürdiger Abend mit dem Superstar
München Ist das nun eine neue Starallüre, die Dreistigkeit eines noch immer nicht gereiften Bürschchens? Da steht dieser in den vergangenen Jahren an Skandälchen ja nun nicht arme Justin Bieber auf der Bühne der Münchner Olympiahalle, Station einer Welttournee, von 13 000 meist weiblichen und jungen Fans bekreischt, umjubelt, so innig verehrt, dass es fast zu einer Keilerei kommt, als er am Schluss sein Shirt in Publikum wirft – und bei vielen großen Hits lässt er einfach das Mikrofon sinken, vom Mund zur Hüfte, und schaut dem Treiben zu, während sein Gesang weitergeht, vom Band, als Playback, nun für wirklich jeden erkennbar. Skandal?
Von Madonna vor vielen Jahren bis zu Rihanna vor wenigen Wochen im Olympiastadion ist längst Normalität geworden, dass Pop-Stars in „Livekonzerten“zumindest nicht durchgängig live singen. Stattdessen werden die Auftritte zu immer aufwendigeren Spektakeln. Justin Bieber etwa kommt zu Beginn des hundertminütigen Programms in einem Glaskasten aus dem Boden in schwindelerregende Höhe geschwebt, schlägt nach reichlich Feuer- und Nebel-, Hebe- und SenkBühnenzauber auf einem riesigen, von der Decke hängenden Trampolin über den Fans Salti, hat ein Dutzend Tänzer dabei, wird von sechs Damen am Trapez begleitet und am Schluss von einem 20-Meter-Wasserfall begossen. Aber er zeigt bei Balladen wie „Love Yourself“zur Klampfe oder dem fürs aktuelle Album Titel gebenden „Purpose“auch, wie überzeugend sein LiveGesang sein kann. Doch so offensichtlich, wie der Kanadier dafür das Playback zu Hits wie dem aktuellen „Sorry“und „Baby“, seinem ersten macht, hat das bislang keiner.
Es ist mehr als Kokettieren oder Unlust. Der Kanadier ist mit seinen 22 Jahren bereits ein Routinier. Er war mit zwölf die erste durchschlagende Youtube-Entdeckung, mit 15 bereits ein globales Phänomen. Die um ihn tosende Begeisterung kennt er ebenso wie die Schattenseiten eines allzeit öffentlichen Lebens, doppelt gesteigert durch die Kapriolen der eigenen Pubertät und durch die erweiterte Hysterie in Zeiten der Sozialen Netzwerke. Aus diesen Erfahrungen ist ein neuer Bieber hervorgegangen. Nach den Skandälchen um Sex und Drogen, Eier aufs Nachbarhaus und einem Affen als Tour-Begleiter hat er mit „Purpose“ein reifes und eigenständiges, sein bislang bestes Album vorgelegt.
Und sein Live-Auftritt trägt genau dem auf kluge Weise Rechnung. Der neue Bieber ist nicht mehr das süße Zirkuspferdchen, das lächelnd über jedes Stöckchen springt. Er liefert die große Show, zeigt, was er kann, aber macht auch die Brüche im Pop-Konzept kenntlich. Durch Distanz. Er sagt fast nichts, spart sich sogar das obligatorische „I Love You“ans Publikum und stellt wenn dann Wertfragen. „Wir alle haben eine Stimme – und wir wollen, dass sie gehört wird. Aber wenn es Zeit zu sprechen ist – was sagen wir dann?“Drei, vier Runden dreht er auf dem Steg ins Publikum, die Fragen wiederholend, bevor er antwortet: „Ich sage: Freiheit, Frieden, Aufrichtigkeit… und ich sage Jesus Christus.“Und dann gibt’s wieder Playback zu „As Long As You Love Me“. Interessant. Der Bieber ist ein Kauz. Für ihn ist das gut. Für die Pop-Welt ein bisschen peinlich.