Mittelschwaebische Nachrichten
Der neue Gabriel: Kann der auch Kanzler?
Mit ihrem Votum für das Handelsabkommen hat die SPD die K-Frage faktisch entschieden. Kneifen gilt jetzt nicht mehr – der Chef muss es selbst machen
Er hat an seinen Genossen gelitten – und sie an ihm. So lässig Sigmar Gabriel auch tat, als alles in trockenen Tüchern war: Ein Selbstläufer war die Entscheidung der SPD über den europäisch-kanadischen Handelspakt nicht. Nun aber, da seine Partei ihm Prokura für die nächsten Verhandlungsrunden erteilt hat, ist auch die unausgesprochene Vertrauensfrage beantwortet, die Gabriel ihr gestellt hat. Kanzlerkandidat kann nach diesem Votum nur noch einer werden – er.
Ein Jahr vor der Wahl kommt die Sozialdemokratie zwar in keiner Umfrage über ihr letztes Ergebnis von 25,7 Prozent hinaus. Anders als die Union jedoch rückt sie in der Not zusammen und nicht auseinander. Das ist, nicht zuletzt, Gabriels Verdienst, der wie verwandelt aus der Sommerpause zurückgekehrt ist – präsenter, angriffslustiger, einsichtiger auch. Wie nie zuvor hat er die Parteilinke, mit der ihn sonst nicht viel verbindet, in die Suche nach einem Kompromiss im Handelsstreit mit einbezogen. Das schafft neues Vertrauen – und ein Fundament für den Wahlkampf.
Gabriels Chancen, Angela Merkel aus ihrem Amt zu vertreiben, stehen auf den ersten Blick nicht allzu gut. Dazu müsste er, Stand heute, ein Bündnis mit den Grünen und der Linkspartei bilden, die er für alles hält, nur nicht für regierungsfähig. Der Rest ist pure Spekulation. Ist die Talfahrt der Union mit dem plötzlichen Eingeständnis der Kanzlerin, sie habe in der Flüchtlingspolitik Fehler gemacht, jetzt gestoppt? Oder setzt sich der rasante Ansehensverlust fort, der die CDU in Berlin gerade die Regierungsbeteiligung gekostet hat und sie in Mecklenburg-Vorpommern sogar hinter die AfD zurückfallen ließ? Nie zuvor war die politische Lage in der Bundesrepublik so volatil – mit einem wahren Portfolio an Möglichkeiten. So könnten, ebenfalls Stand heute, schon fünf Prozentpunkte mehr für die Sozialdemokraten ausreichen, um Gabriel zum Kanzler einer Ampelkoalition mit den Grünen und der FDP zu machen...
Vor diesem Hintergrund war das Votum des Wolfsburger Konvents für ihn sogar von doppeltem Nutzen. Indem sie das Handelsabkommen nach einem langen innerparteilichen Streit akzeptiert hat, hat die SPD nicht nur ihrem Vorsitzenden den Rücken gestärkt. Sie ist auch Bundesländern mit und stürzt sich, anders als früher, diesmal nicht in eine selbstzerstörerische Debatte über die Unfähigkeit der eigenen Spitzenleute und die Undankbarkeit des Wählers. Im Dezember vergangenen Jahres war Gabriel noch ein Parteichef auf Abruf, gedemütigt durch ein Wahlergebnis von nur 74 Prozent. Heute ist er der Mann, für den die Partei viele ihrer Bedenken über Bord geworfen hat, der wieder alles in der Hand hat.
Faktisch ist die K-Frage damit entschieden. Gelegentlich fallen noch die Namen des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz und des Europapolitikers Martin Schulz. Nach Wolfsburg aber hat Gabriel gar keine andere Wahl mehr, als selbst anzutreten. Seine Partei hat ihm gezeigt, dass sie bereit ist, sich auf dieses Experiment einzulassen. Würde er jetzt verzichten und wie 2013 mit Peer Steinbrück einen anderen in ein vermeintlich aussichtsloses Rennen schicken: es würde ihm zu Recht als Flucht aus der Verantwortung ausgelegt. Das aber wird Gabriel der SPD nicht antun – und sich selbst auch nicht.
Fünf Prozentpunkte mehr könnten schon reichen…