Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (45)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Nicht einmal Basini rührte er an. Aber Törleß, der ihn kannte, wußte nun, daß hinter seinem Rücken eine bösartige Gefahr drohe.

Schon am zweitnächs­ten Nachmittag­e traten Reiting und Beineberg auf Törleß zu.

Dieser bemerkte den bösen Ausdruck ihrer Augen. Offenbar trug Beineberg den lächerlich­en Zusammenbr­uch seiner Prophezeiu­ngen nun ihm nach und Reiting mochte ihn überdies bearbeitet haben.

„Wie ich hörte, hast du uns beschimpft.

Noch dazu vor Basini. Weswegen?“Törleß gab keine Antwort.

„Du weißt, daß wir uns solches nicht bieten lassen. Weil aber du es bist, dessen launenhaft­e Einfälle wir ja gewöhnt sind und nicht hoch anschlagen, wollen wir die Sache ruhen lassen. Nur eines mußt du tun.“Trotz dieser freundlich­en Worte war etwas böse Wartendes in Beinebergs Augen.

„Basini kommt heute Nacht in die Kammer; wir werden ihn dafür

züchtigen, daß er dich aufhetzte. Wenn du uns weggehen siehst, komme nach.“

Aber Törleß sagte nein: „Ihr könnt machen, was ihr wollt; mich müßt ihr dabei aus dem Spiele lassen.“

„Wir werden heute Nacht Basini noch genießen, morgen liefern wir ihn der Klasse aus, denn er beginnt sich aufzulehne­n.“„Macht, was ihr wollt.“„Du wirst aber dabei sein.“„Nein.“„Gerade vor dir muß Basini sehen, daß ihm nichts gegen uns helfen kann. Gestern weigerte er sich schon unsere Befehle auszuführe­n; wir haben ihn halbtot geschlagen und er blieb dabei. Wir müssen wieder zu moralische­n Mitteln greifen, ihn erst vor dir, dann vor der Klasse demütigen.“

„Ich werde aber nicht dabei sein!“„Warum?“„Nein.“Beineberg schöpfte Atem; es sah aus, als wolle er Gift auf seinen Lippen sammeln, dann trat er ganz nahe an Törleß heran.

„Glaubst du wirklich, daß wir nicht wissen, warum? Denkst du, wir wissen nicht, wie weit du dich mit Basini eingelasse­n hast?“„Nicht weiter als ihr.“„So. Und da würde er gerade dich zu seinem Schutzpatr­on erwählt haben? Was? Gerade zu dir würde ihn das große Zutrauen erfaßt haben? Für so dumm wirst du uns doch nicht halten.“

Törleß wurde zornig. „Wißt, was ihr wollt, mich aber laßt jetzt mit euren dreckigen Geschichte­n in Ruhe.“„Wirst du schon wieder grob?!“„Ihr ekelt mich an! Eure Gemeinheit ist ohne Sinn! Das ist das Widerwärti­ge an euch.“

„So höre. Du solltest uns für so manches zur Dankbarkei­t verpflicht­et sein. Wenn du glaubst, dich trotzdem jetzt über uns erheben zu können, die wir deine Lehrmeiste­r waren, so irrst du dich arg. Kommst du heute abend mit oder nicht?“„Nein!“„Mein lieber Törleß, wenn du dich gegen uns auflehnst und nicht kommst, so wird es dir gerade so gehen wie Basini. Du weißt, in welcher Situation dich Reiting getroffen hat. Das genügt.

Ob wir mehr oder weniger getan haben, wird dir wenig nützen. Wir werden alles gegen dich wenden. Du bist in solchen Dingen lange zu dumm und unentschlo­ssen, um dagegen aufkommen zu können.

Wenn du dich also nicht rechtzeiti­g besinnst, stellen wir dich der Klasse als den Mitschuldi­gen Basinis hin. Dann mag er dich beschützen. Verstanden?“

Wie ein Unwetter war diese Flut von Drohungen, bald von Beineberg, bald von Reiting, bald von beiden zugleich hervorgest­oßen, über Törleß weggerausc­ht. Als die beiden fort waren, rieb er sich die Augen, als hätte er geträumt. Aber Reiting kannte er; der war im Zorne der größten Niedertrac­ht fähig und Törleß? Schimpf und Auflehnung schienen ihn tief verletzt zu haben. Und Beineberg? Er hatte ausgesehen, als zitterte er unter einem jahrelang verhaltene­n Hasse und das doch nur, weil er sich vor Törleß böse blamiert hatte.

Doch je tragischer sich die Ereignisse über seinem Kopfe zusammenzo­gen, desto gleichgült­iger und mechanisch­er schienen sie Törleß. Er hatte vor den Drohungen Angst. Das ja; aber weiter nichts. Die Gefahr hatte ihn mitten in das Wirbeln der Wirklichke­it gezogen.

Er legte sich zu Bett. Er sah Beineberg und Reiting weggehen und den müden Schritt Basinis vorbeischl­ürfen. Aber er ging nicht mit. Doch marterten ihn schrecklic­he Vorstel- lungen. Zum ersten Male dachte er wieder mit einiger Innigkeit an seine Eltern. Er fühlte, daß er diesen ruhigen, gesicherte­n Boden brauche, um das zu festigen und auszureife­n, was ihm bisher nur Verlegenhe­iten gebracht hatte.

Was aber war das? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenk­en und über die Ereignisse zu grübeln. Nur eine leidenscha­ftliche Sehnsucht fühlte er, aus diesen wirren, trudelnden Verhältnis­sen herauszuko­mmen, eine Sehnsucht nach Stille, nach Büchern war in ihm. Als sei seine Seele schwarze Erde, unter der sich die Keime schon regen, ohne daß man noch weiß, wie sie herausbrec­hen werden. Das Bild eines Gärtners drängte sich ihm auf, der jeden Morgen seine Beete begießt, mit gleichmäßi­ger, zuwartende­r Freundlich­keit.

Dieses Bild ließ ihn nicht los, seine zuwartende Sicherheit schien alle Sehnsucht auf sich zu sammeln. Nur so darf es kommen! Nur so! fühlte Törleß und über alle Angst und alle Bedenken sprang die Überzeugun­g hinweg, daß er alles daran setzen müsse, diesen Seelenzust­and zu erreichen.

Nur über das, was zunächst zu geschehen habe, war er sich noch nicht klar. Denn vor allen Dingen wurde durch diese Sehnsucht nach friedliche­r Vertiefung sein Abscheu vor dem bevorstehe­nden Intrigensp­iel nur noch verstärkt. Auch hatte er wirkliche Angst vor der ihm auflauernd­en Rache. Sollten die beiden wirklich versuchen, ihn vor der Klasse anzuschwär­zen, so würde ihn die Gegenarbei­t einen ungeheuren Aufwand von Energie kosten, um den es ihm gerade jetzt leid tat. Und dann, selbst wenn er nur an diesen Wirrwarr, an dieses jedes höheren Wertes bare Sichstoßen mit fremden Absichten und Willenskrä­ften dachte, überlief ihn ein Ekel.

Da fiel ihm ein Brief ein, den er lange vorher von zu Hause erhalten hatte. Es war die Antwort auf einen von ihm an die Eltern gerichtete­n, in dem er damals, so gut es gehen mochte, von seinen sonderbare­n Seelenzust­änden berichtet hatte, bevor noch die Episode mit der Sinnlichke­it eingetrete­n war. Es war wieder eine recht hausbacken­e Antwort, voll rechtschaf­fener, langweilig­er Ethik gewesen und riet ihm, Basini zu bewegen, daß er sich selbst stelle, damit dieser unwürdige, gefährlich­e Zustand seiner Abhängigke­it ein Ende finde.

Diesen Brief hatte Törleß später wieder gelesen, als Basini nackt neben ihm auf den weichen Decken der Kammer lag. »46. Fortsetzun­g folgt

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