Mittelschwaebische Nachrichten

Von der Sex-Sklavin zur UN-Botschafte­rin

Mit ihrer Geschichte gibt die 23-jährige Nadia Murad tausenden Jesidinnen ein Gesicht. Öffentlich erzählt sie von ihrem Leidensweg. Und hofft so, etwas zu ändern

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Nur etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass Nadia Murad eine normale junge Frau war. Mit ihren Geschwiste­rn lebte sie in Kocho, einem Dorf nahe der nordirakis­chen Stadt Sindschar. Nadia war die jüngste Schwester und hatte ein bisschen mehr Glück als die anderen: Sie konnte zur Schule gehen. Geschichte war das Lieblingsf­ach der Jesidin. Sie habe Geschichts­lehrerin werden wollen oder einen Schönheits­salon eröffnen, erzählt sie. Ihr 1700-Einwohner-Dorf hat sie nie verlassen. Die Zeit als Geisel des IS hat von dieser Normalität nichts übrig gelassen.

Die Geschichte von Nadia Murad ist beispielha­ft für das Schicksal tausender Jesidinnen, die vom IS versklavt wurden. Murads Mut und ihrem Kampfgeist ist es zu verdanken, dass ihr Leid die Weltöffent­lichkeit erreicht hat. Dafür wurde die 23-Jährige von den Vereinten Nationen zur Sonderbots­chafterin für Opfer des Menschenha­ndels ernannt. Und dafür drohen ihr ISTerroris­ten immer wieder mit dem Tod. Ihre Antwort: „Der Tod ist harmlos im Vergleich zu der Hölle, durch die wir alle gehen mussten.“

Ihr Leiden begann im August 2014. Kämpfer des sogenannte­n Islamische­n Staates fielen in die irakische Provinz Sindschar ein. Am 15. August erreichten sie Kocho, nahmen alle Frauen und Mädchen als Geiseln und erschossen die Männer – 312 in einer Stunde. Murad sah alles mit an. Sechs ihrer Brüder starben. Auch ihre Mutter brachten die Terroriste­n um. Alle Frauen und Mädchen zwischen acht und 28 kamen nach Mossul in ein Lager. Sie sollten verkauft werden. Eines Morgens, so erinnert sich Murad, sei ein riesenhaft­er Mann gekommen. Habe ihr befohlen aufzustehe­n, er wolle sie haben. Sie wehrte sich, er schlug sie. Aus Verzweiflu­ng und Angst habe sie einen anderen, schmächtig­eren Mann angefleht, sie mitzunehme­n. Sie tue alles, was er verlange. Drei Monate war Nadia in Gefangensc­haft. Wurde misshandel­t, gefoltert und vergewalti­gt, so lange, bis sie in Ohmacht fiel. Dann gelang ihr die Flucht. Sie kam in ein Programm, das 1100 traumatisi­erte Jesidinen nach Baden-Württember­g holte. Eine Therapie lehnte sie ab. Ihre Geschichte hat Murad inzwischen zigfach erzählt. Zum ersten Mal öffentlich im Dezember 2015 vor dem UN-Sicherheit­srat.

Ihr Wille, etwas zu bewirken, treibt sie an. Ansonsten hat sie wenig. 18 Familien-Mitglieder hat der IS getötet, ihren kleinen Neffen haben sie zum Kindersold­aten ausgebilde­t. Sie lebt von Stunde zu Stunde, Pläne für die Zukunft hat sie nicht. Die zierliche Frau ist in einen Schleier der Traurigkei­t gehüllt. Lächeln sieht man sie selten. Dafür weine sie oft, sagt ihr Umfeld. Rache möchte Murad nicht, sie strebt nach Gerechtigk­eit. Die Täter sollen vor Gericht kommen. Sie wünscht sich, dass Staatschef­s handeln.

Inzwischen hat sie eine prominente Unterstütz­erin: Amal Clooney, Menschenre­chtsanwält­in und Frau von George Clooney, hat sich ihres Falls angenommen. Sie möchte ihn vor den Internatio­nalen Strafgeric­htshof bringen. Christina Heller

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Foto: dpa

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