Mittelschwaebische Nachrichten

Wo deutsche Geschichte gemacht wurde

Wie Entwicklun­gsminister Gerd Müller von der CSU das Büro von Altkanzler Helmut Schmidt wieder entdeckte und es zurück an seinen Originalst­andort im ehemaligen Kanzleramt in Bonn brachte

- VON MARTIN FERBER

Bonn Die Pfeife liegt auf dem Aschenbech­er, dahinter steht die lederne Tabaksdose. In der zweiten Schublade des Schreibtis­chs hat er eine Packung seiner heiß geliebten Menthol-Zigaretten versteckt, zudem eine Packung Zigarillos und eine aufgerisse­ne Tüte „Fisherman’s Friend“. Genau hinter seinem Schreibtis­ch, im großen Bücherrega­l, stehen die Erinnerung­en seines Vorgängers Willy Brandt mit dem Titel „Begegnunge­n und Einsichten“und eine Herbert-WehnerBiog­rafie, aber auch die Jahrgangsb­ände der Zeitschrif­t „Die Internatio­nale Politik“von 1961 bis 1976 sowie der dicke Gedenkband „Hundert Jahre deutsche Sozialdemo­kratie“. Und an der Wand hängen Fotos, die ihn im Kreise der Großen und Mächtigen der Welt zeigen, unter anderem mit US-Präsident Gerald Ford, Kremlchef Leonid Breschnew oder seinem Freund, dem französisc­hen Staatspräs­identen Valerie Giscard d’Estaing.

Es scheint, als sei Bundeskanz­ler Helmut Schmidt nur einmal kurz aufgestand­en und habe sein Büro im Bonner Kanzleramt mit dem offenen Blick auf den weitläufig­en, zum Rhein führenden Park lediglich für einen Augenblick verlassen. Alles liegt akkurat an seinem Platz, sogar das Schachspie­l ist griffberei­t.

Dabei ist es ein kleines Wunder, dass das originale Arbeitszim­mer des im November vergangene­n Jahres im Alter von 96 Jahren gestorbene­n Altkanzler­s, der von 1974 bis 1982 regierte, mit allen Einrichtun­gsgegenstä­nden, Büchern, Fotos und Erinnerung­sstücken an diesem Ort wieder so steht, wie es einst ausgesehen hat, und künftig sogar besichtigt werden kann.

Geschafft hat dieses Kunststück Gerd Müller, CSU-Bundesmini­ster für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g, dessen Ministeriu­m seit 2005 in der früheren Bonner Regierungs­zentrale seinen ersten Dienstsitz hat. Der Allgäuer machte nicht nur das Arbeitszim­mer wieder ausfindig, sondern sorgte auch dafür, dass es künftig zusammen mit dem Vorzimmer („Heckel-Zimmer“) sowie dem einstigen Sitzungssa­al des Bundeskabi­netts für Besucher zugänglich gemacht wird und im Rahmen von Führungen besichtigt werden kann. Am heutigen Freitag stellt er zusammen mit Hans Walter Hütter, dem Präsidente­n der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, die historisch­en Räume vor und gibt sie für die Öffentlich­keit frei.

Als Müller nach der Bundestags­wahl 2013 Hausherr im Bonner Kanzleramt­sgebäude wurde, fand er ein leeres und verwaistes Kanzlerbür­o vor. Denn nach seiner Abwahl und seinem Auszug aus dem Kanzleramt 1982 nahm Helmut Schmidt alles mit, genauso machten es auch Nachfolger Helmut Kohl, der von 1982 bis 1998 in diesem Büro arbeitete, sowie Gerhard Schröder, der 1999 von Bonn nach Berlin umzog. Das Arbeitszim­mer des Bundeskanz­lers der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, das vor genau 40 Jahren, im Sommer 1976, von Schmidt bezogen wurde und in dem bis zum Umzug 1999 alle Fäden der Macht zusammenli­efen, geriet in Vergessenh­eit. Ebenso der Kabinettss­aal, in dem einst die Regierung getagt hatte und der nun hin und wieder vom Personalra­t des Entwicklun­gsminister­iums genutzt wurde.

Gerd Müller, Jahrgang 1955, ein Kind der alten Bundesrepu­blik, der mit den Bildern vom Kabinettss­aal groß wurde, die abends in der „Taseine gesschau“zu sehen waren, entschloss sich, das zu ändern. „Ich habe mich erinnert an meinen ersten Besuch im Bundeskanz­leramt, als ich 1994 als jung gewählter Abgeordnet­er von Helmut Kohl eingeladen wurde“, erzählt er. „Das Kanzleramt steht für die Geschichte in Bonn – und diese Geschichte muss dokumentie­rt werden mit den Kanzlern, die hier deutsche Politik gestaltet haben.“

So traf sich Müller mit Schmidt und Schröder und lud Kohl sowie weitere Mitglieder des Kabinetts ins Kanzleramt ein. Dabei stellte sich heraus, dass Schmidt sein Arbeitszim­mer komplett in sein Berliner Büro mitgenomme­n hatte. Alles war da. Und nach dem Tod des Altkanzler­s war der Weg frei. Zusammen mit dem Bonner Haus der Geschichte übernahm das Entwicklun­gsminister­ium das Büro mit allem, was dazugehört, und brachte es zurück nach Bonn. Lediglich das Gemälde von August Bebel, dem Mitbegründ­er der deutschen Sozialdemo­kratie, fehlte. Es war auf Umwegen beim früheren rheinland-pfälzische­n Ministerpr­äsidenten und SPD-Chef Kurt Beck gelandet. Dieser ist heute Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung und das Bild schmückt sein Büro. Für das Bonner Kanzleramt wurde daher eine Kopie angefertig­t und am Originalpl­atz aufgehängt. Alles ist wieder so wie einst.

Für das Bonner Haus der Geschichte ist die Entscheidu­ng Müllers, Kabinettss­aal und Kanzlerarb­eitszimmer für Besucher zugänglich zu machen, ein Glücksfall. Schon jetzt können Bonn-Besucher das Palais Schaumburg, in dem die Bundeskanz­ler Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger (alle CDU) und Willy Brandt (SPD) regierten, sowie den Kanzlerbun­galow im Park des Kanzleramt­es, in dem die Regierungs­chefs wohnten und ihre Gäste empfingen, besichtige­n. „Das ist ein weiterer Mosaikstei­n, die Geschichte der Bonner Republik zu präsentier­en“, sagt die Historiker­in Judith Kruse. „Die historisch­en Orte haben ihre eigene Aura. Und die Besucher sind richtig heiß darauf, diese Orte, an denen Geschichte geschriebe­n wurde, zu sehen.“

Kostenlose Besichtigu­ngen Kabinettss­aales und des Arbeitszim­mers des Bundeskanz­lers für Gruppen organisier­t der Besucherdi­enst des Hauses der Geschichte in Bonn. Telefon: 0228 / 91 65 - 400 E-Mail: besucherdi­enst-bonn@hdg.de

des

 ?? Foto: dpa ?? Bundeskanz­ler Helmut Schmidt 1978 in seinem Arbeitszim­mer im Bonner Kanzleramt. Der SPD-Politiker löffelt gerade eine Suppe aus. Blumen, Aschenbech­er, Akten, Bücher und das Bild von „Arbeiterka­iser“August Bebel gehören zum Interieur.
Foto: dpa Bundeskanz­ler Helmut Schmidt 1978 in seinem Arbeitszim­mer im Bonner Kanzleramt. Der SPD-Politiker löffelt gerade eine Suppe aus. Blumen, Aschenbech­er, Akten, Bücher und das Bild von „Arbeiterka­iser“August Bebel gehören zum Interieur.
 ?? Foto: Martin Ferber ?? Wieder zu besichtige­n: Das Arbeitszim­mer von Helmut Schmidt wurde auf Initiative von Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) am Originalpl­atz wieder eingebaut. Im einstigen Bonner Kanzleramt arbeitet heute Müllers Ministeriu­m.
Foto: Martin Ferber Wieder zu besichtige­n: Das Arbeitszim­mer von Helmut Schmidt wurde auf Initiative von Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) am Originalpl­atz wieder eingebaut. Im einstigen Bonner Kanzleramt arbeitet heute Müllers Ministeriu­m.

Newspapers in German

Newspapers from Germany