Mittelschwaebische Nachrichten
Als die Welt am Abgrund stand
Ein besonnener Oberst verhinderte am 26. September 1983 das Ende der Welt
Mindelzell Es gibt Daten, die sich dem Gedächtnis einprägen, weil sie Geschichte machten. Der 14. Juli 1789 ist ein solches Datum. König Ludwig XVI. schrieb in sein Tagebuch am Ende des Tages nur ein Wort „rien“– nichts. Nichts hat sich ereignet. Er ahnte nicht, dass die Französische Revolution ausgebrochen war, die zu seinem Sturz und seiner Hinrichtung führen sollte. Der 11. September 2001 hat ebenfalls die Welt verändert, als Selbstmordattentäter das World Trade Center in New York zerstörten und noch weitere Ziele, mit denen sie den Nerv Amerikas treffen wollten. Seitdem kämpft die Welt, allen voran die USA, gegen den Terror, der sich als Hydra erweist, die man nicht bezwingen kann.
Nicht ins kollektive Gedächtnis brannte sich der 26. September 1983 ein. An diesem Tag stand die Welt am Abgrund eines Atomkrieges. Im Moskauer Überwachungszentrum für Atomschläge gab es ein Frühwarnsystem. Oberst Stanislaw Petrow hatte Dienst. Da melden die Computer eine anfliegende amerikanische Atomrakete. Die Satellitenbilder zeigen noch nichts. Die Computer lösen trotzdem Alarm aus. Nun liegt die ganze Verantwortung allein in den Händen von Oberst Petrow. Er muss entscheiden. Seine Aufgabe wäre es, sofort den Gegenschlag auszulösen und die sowjetischen Atomraketen zum Einsatz zu bringen. Innerhalb von Sekunden geht es um Leben und Tod. Oberst Petrow weiß um die zerstörerische Kraft der Atomraketen. Er zögert. Er traut dem Computer nicht, nachdem die Satellitenbilder bei aller Unschärfe keine verdächtigen Bewegungen erkennen lassen. Er will nicht der Mann sein, der den dritten Weltkrieg auslöst. Der Computer meldet kurz darauf immer neue Raketen. Seine Mitarbeiter verstehen Petrows Zögern nicht. Sie drängen ihn, den Befehl zum Gegenschlag zu geben.
Oberst Petrow verliert die Nerven nicht. Er will abwarten, bis die erste Rakete auf dem Radarschirm auftaucht. Sie wäre Sekunden später eingeschlagen. Siebzehn lange Minuten steht die Welt am Abgrund einer Nuklearkatastrophe. Dann stellt sich heraus, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Man kann sich gar nicht ausdenken, welche Folgen es gehabt hätte, wenn der Alarm ernst genommen worden wäre. Man ging nach dieser atemberaubenden Nacht wieder zur Tagesordnung über. Oberst Petrow erhielt von der Obersten Heeresführung weder eine Bestrafung, weil er sich nicht genau an die vorgesehenen Abläufe gehalten hat, noch eine Auszeichnung, weil er das Leben unzähliger Menschen gerettet hat.
Oberst Petrow wurde nie für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, denn er war ja nur ein unscheinbares Rädchen im militärischen Apparat. Es ist das Verdienst deutscher Journalisten, dass sie Oberst Petrow, der im Ruhestand lebt, nochmals seine Geschichte erzählen ließen, die bewusst macht, dass jeden Tag mit dem Ende der Welt gerechnet werden muss. Wir brauchen uns nur vorzustellen, wenn statt Oberst Petrow ein Terrorist den atomaren Schlag auslösen würde. Dass Selbstmordattentäter vor nichts zurückschrecken, weiß man inzwischen. Das Wort Jesu gilt mehr denn je: „Haltet auch ihr euch bereit, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“(Mt 25,13). Am 23. September 1983 war es noch nicht so weit. Nützen wir deshalb die Zeit, die uns noch geschenkt ist. (gsch)