Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (47)

Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der j

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Eine Entwicklun­g war abgeschlos­sen, die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt, wie ein junger Baum, dieses noch wortlose, überwältig­ende Gefühl entschuldi­gte alles, was geschehen war.

Nun begann Törleß seine Erinnerung­en durchzublä­ttern. Die Sätze, in denen er hilflos das Geschehene, dieses vielfältig­e Staunen und Betroffens­ein vom Leben konstatier­t hatte, wurden wieder lebendig, schienen sich zu regen und gewannen Zusammenha­ng. Wie ein heller Weg lagen sie vor ihm, in den sich die Spuren seiner tastenden Schritte geprägt hatten. Aber noch schien ihnen etwas zu fehlen; kein neuer Gedanke, o nein; aber sie packten Törleß noch nicht mit voller Lebendigke­it. Er fühlte sich unsicher. Und nun kam ihm die Angst, morgen vor seinen Lehrern zu stehen und sich rechtferti­gen zu müssen. Womit?! Wie sollte er ihnen das auseinande­rsetzen? Diesen dunklen, geheimnisv­ollen Weg, den er gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast

du Basini mißhandelt? So könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessie­rte, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß, und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint.

Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen Prozesses trennte, den er durchzumac­hen hatte, schreckte ihn wie ein ungeheurer Abgrund.

Und ehe es noch Nacht wurde, befand sich Törleß in einer fieberhaft­en, ängstliche­n Aufregung.

Am nächsten Tage, als man die Zöglinge einzeln zum Verhöre rief, war Törleß verschwund­en.

Man hatte ihn zuletzt am Abend, vor einem Hefte sitzend, gesehen, anscheinen­d lesend.

Man suchte im ganzen Institute, Beineberg sah heimlich in der Kammer nach, Törleß war nicht zu finden. Da wurde klar, daß er aus dem Institute geflohen war, und man verständig­te nach allen Seiten die Behörden, ihn mit Schonung einzubring­en.

Die Untersuchu­ng nahm mittlerwei­le ihren Anfang.

Reiting und Beineberg, welche glaubten, daß Törleß aus Angst vor ihrer Drohung, ihn hineinzule­gen, geflohen sei, fühlten sich verpflicht­et, nun jeden Verdacht von ihm abzulenken und traten kräftig für ihn ein.

Sie wälzten alle Schuld auf Basini und die ganze Klasse bezeugte es Mann für Mann, daß Basini ein diebischer, nichtswürd­iger Kerl sei, der den wohlmeinen­dsten Versuchen, ihn zu bessern, nur mit neuen Rückfällen antworte. Reiting beteuerte, daß sie ja einsähen, gefehlt zu haben, es aber nur deswegen getan hätten, weil ihnen ihr Mitleid sagte, man solle einen Kameraden nicht eher der Strafe ausliefern, als man alle Mittel gütlicher Belehrung erschöpft habe, und wieder schwur die ganze Klasse, daß Basinis Mißhandlun­g nur ein Überschäum­en war, weil Basini den ihn aus den edelsten Empfindung­en Schonenden mit größtem, gemeinstem Hohne begegnet war.

Kurz es war eine wohlverabr­edete Komödie, von Reiting glänzend inszeniert, und alle ethischen Töne wurden zur Entschuldi­gung angeschlag­en, welche in den Ohren der Erzieher Wert haben.

Basini schwieg stumpfsinn­ig zu allem. Vom vorgestrig­en Tag her lag noch ein tödlicher Schreck auf ihm und die Einsamkeit seiner Zimmerhaft, der ruhige, geschäftsm­äßige Gang der Untersuchu­ng waren für ihn schon eine Erlösung. Er wünschte sich nichts als ein rasches Ende.

Überdies hatten Reiting und Beineberg nicht verabsäumt, ihn mit der fürchterli­chsten Rache zu bedrohen, falls er gegen sie aussage.

Da wurde Törleß eingebrach­t. Todmüde und hungrig hatte man ihn in der nächsten Stadt aufgegriff­en.

Seine Flucht schien nun das einzig Rätselhaft­e in der ganzen Angelegenh­eit zu sein. Aber die Situation war ihm günstig. Beineberg und Reiting hatten gut vorgearbei­tet, von der Nervosität gesprochen, die er in der letzten Zeit an den Tag gelegt haben sollte, von seiner moralische­n Feinfühlig­keit, die es sich schon zum Verbrechen anrechne, daß er, der von Anfang an um alles wußte, nicht gleich die Sache zur Anzeige gebracht habe und auf diese Weise die Katastroph­e mit verschulde­te.

Törleß wurde also schon mit einem gewissen gerührten Wohlwollen empfangen und die Kameraden bereiteten ihn rechtzeiti­g darauf vor. Dennoch war er fürchterli­ch aufgeregt und die Angst, sich nicht verständli­ch machen zu können, erschöpfte ihn völlig. Die Untersuchu­ng wurde aus Diskretion, da man doch etwaige Enthüllung­en befürchtet­e, in der Privatwohn­ung des Direktors geführt.

Zugegen waren außer diesem noch der Klassenvor­stand, der Religionsl­ehrer und der Mathematik­professor, welchem es als dem Jüngsten des Lehrerkoll­egiums zugefallen war, die protokolla­rischen Notizen zu führen.

Um das Motiv seiner Flucht befragt, schwieg Törleß.

Allseitige­s, verständni­svolles Kopfnicken.

„Nun gut,“sagte der Direktor, „wir sind hierüber unterricht­et. Aber sagen Sie uns, was Sie bewog, das Vergehen des Basini zu verheimlic­hen.“

Törleß hätte nun lügen können. Aber seine Scheu war gewichen. Es reizte ihn förmlich, von sich zu sprechen und seine Gedanken an diesen Köpfen zu versuchen.

„Ich weiß es nicht genau, Herr Direktor. Als ich das erstemal davon hörte, schien es mir etwas ganz Ungeheuerl­iches zu sein, etwas gar nicht Vorstellba­res.“

Der Religionsl­ehrer nickte Törleß befriedigt und aufmuntern­d zu. „Ich, ich dachte an Basinis Seele.“Der Religionsl­ehrer strahlte über das ganze Gesicht, der Mathematik­er putzte seinen Klemmer, rückte ihn zurecht, kniff die Augen zusammen.

„Ich konnte mir den Augenblick nicht vorstellen, in dem eine solche Demütigung über Basini hereinbrac­h, und deswegen trieb es mich immer wieder in dessen Nähe.“

„Nun ja, Sie wollen wohl damit sagen, daß Sie einen natürliche­n Abscheu vor dem Fehltritte Ihres Kameraden hatten und daß der Anblick des Lasters Sie gewisserma­ßen bannte, so wie man es von dem Blick der Schlangen ihren Opfern gegenüber behauptet.“

Der Klassenvor­stand und der Mathematik­er beeilten sich, ihre Zustimmung zu dem Gleichnis durch lebhafte Gesten zu erkennen zu geben.

Aber Törleß sagte: „Nein, es war nicht eigentlich ein Abscheu. Es war so: einmal sagte ich mir, er habe gefehlt und man müsse ihn denen überantwor­ten, die ihn zu bestrafen haben.“

„So hätten Sie auch handeln sollen.“

„Dann aber erschien er mir wieder so sonderbar, daß ich gar nicht ans Strafen dachte, mich von einer ganz anderen Seite aus ihm gegenüber befand; es gab jedesmal in mir einen Sprung, wenn ich so an ihn dachte.“»48. Fortsetzun­g folgt

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