Mittelschwaebische Nachrichten
Ein Kotzbrocken zum Küssen
Regisseur Oliver Haffner macht aus „Platonow“eine überdrehte Komödie – mit einem starken Ensemble
Ulm Auf dieser Bühne geht es nicht zu wie auf einem russischen Gutshof, sondern wie in einem altmodischen ZDF-Krimi: Die feinen Leute feiern, alles trinkt, alles raucht, man ist einander verbunden – durch Liebschaften, Bedürfnisse oder auch nur alte Schulden. Aber der Untergang ist nah: An den Wänden blättert der Putz ab und langsam bröckelt auch die Fassade der Freundschaft. Anton Tschechows „Platonow oder Die Vaterlosen“zeichnet das Bild einer zerbrechenden Gesellschaft. Ein Ungetüm von einem Stück, aus dem Regisseur Oliver Haffner am Theater Ulm einen sehr unterhaltsamen Abend mit grellen Tönen und viel Witz macht.
Im Zentrum steht die Titelfigur Platonow. Ein Mann, der machen kann, was er will: Er kann die Frauen belehren, beleidigen, benutzen – sie verfallen ihm trotzdem. Der Dorflehrer, Spross einer verarmten Adelsfamilie, genießt in seiner ländlichen russischen Heimat eine Narrenfreiheit, wie sie sonst nur Popstars und Fußballprofis haben. Er ist ein zynischer Selbstdarsteller, ein geistreicher Nichtsnutz, ein verantwortungsloser Filou. Also eigentlich eine jämmerliche Existenz, die ihr gescheitertes Leben nur im Alkoholnebel erträgt. In Ulm hat Fabian Gröver das Privileg, diesen Kotzbrocken von einem Helden zu spielen. Dazu kommen noch 16 weitere Sprechrollen: Auf der Bühne steht das gesamte Schauspielensemble, verstärkt um Intendant Andreas von Studnitz und zwei Gäste.
Regisseur Haffner lässt seinen „Platonow“als beschwipste Gesellschaftskomödie in einem verwitterten Herrenhaus (Bühne: Britta Lammers) beginnen. Ein Fest für die Schauspieler, die eine durchweg vorzügliche Leistung abliefern: allen voran Fabian Gröver, der Platonow herrlich arrogant profiliert. Ebenfalls herauszuheben: Neuzugang Timo Ben Schöfer als schelmischer Arzt und der aus diversen Fernsehrollen bekannte Gast Andreas Bittl, der dem Pferdedieb Ossip unerwartet sanfte und musische Züge gibt.
Nach der lockeren Einführung verändert sich das Stück wie der Rauschzustand der Akteure. Mit dem Ortswechsel zu Platonows ärmlicher Dorfschule wird es zu einer Mischung aus Sozialstudie und Besoffski-Slapstick – im Schlussakt gar zu einer überzeichneten Boulevard-Komödie mit Türknallen und Wehgeschrei. Bis zum Finale, das keinen unversehrt zurücklässt. „Platonow“in Ulm ist ein entlarvendes Stück über Menschen, die ihre Selbstachtung verloren haben – und immer nur an sich selbst denken. Absolut aktuell.
Starker Applaus für die Darsteller und das Regieteam – allerdings von einem recht übersichtlichen Publikum: Angesichts drei Stunden Spieldauer war etwa ein Drittel der Zuschauer bereits in der Pause geflohen. Das hat diese facettenreiche und geglückte Inszenierung nicht verdient.
Termine Wieder am 2., 8., 14., 19., 22. und 23. Oktober im Großen Haus des Theaters Ulm. Weitere Aufführungen bis Ende November.