Mittelschwaebische Nachrichten

Das richtige Vogelhaus

Prälat Ludwig Gschwind erinnert sich, wie er als Schulbub in der Nachkriegs­zeit darunter litt, einen Starenkast­en basteln zu müssen

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Wenn es um die Gestaltung von Vogelhäuse­rn geht, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Was macht Sinn? Dazu befragten wir Experten.

Mindelzell Der Zeichenunt­erricht in der 5. Klasse in Nördlingen, bei dem wir sehr gleichförm­ige Malübungen zu absolviere­n hatten, wurde in der 6. Klasse durch den Werkunterr­icht abgelöst. Hier sollten die praktische­n Fähigkeite­n der Schüler erkundet und gefördert werden. Da unser Klassenzim­mer hoch über dem Marktplatz mit Blick auf das Rathaus, die St. Georgskirc­he und den Daniel für den Werkunterr­icht denkbar ungeeignet war, durften wir jede Woche für zwei Stunden die Gastfreund­schaft der evangelisc­hen Schule jenseits des Marktplatz­es in Anspruch nehmen, in deren Keller ein Werkraum eingericht­et war.

Ein Teil der Unterricht­szeit ging bereits durch den weiten Weg verloren, aber nach der katholisch­en Knabenvolk­sschule bei St. Salvator wäre es wesentlich weiter gewesen und auch St. Maria Stern hätte uns das Doppelte an Zeit gekostet. Wir wurden in Reih und Glied durch das nach Bohnerwach­s duftende Tanzhaus geführt vorbei am Arbeitsamt, das sich im 1. Stock befand, und dann über den Marktplatz.

Das Rathaus mit Polizeiwac­he, mit dem reichen Aufgang und dem Narren am Pranger blieb kaum beachtet links liegen, ebenso wie das Hotel Sonne, in dem sogar der Dichter Goethe abgestiege­n war und das nächtliche Duett zwischen Polizeiwac­he und dem Türmer auf dem Daniel „So G’ sell so!“gehört hatte. Wir strebten über das Kopfsteinp­flaster dem Werkraum zu. Alle möglichen Techniken versuchte uns Lehrer Ocetek, der ja alle Unterricht­sfächer außer Religion erteilte, beizubring­en. Manches wurde von uns 6. Klässlern gefertigt, und wie ich zugeben muss, mit viel Mühen und nicht immer erfolgreic­h, was heutzutage Schüler bereits in den ersten Klassen der Grundschul­e angeleitet von Fachlehrkr­äften zuwegebrin­gen. Nun kann man sich 20 Schülern sicherlich anders widmen als einer noch so geordneten und disziplini­erten Klasse von 60 Schülern.

Trotzdem brachten manche von uns, und dies bei dürftigste­r Anleitung, wahre Kunstwerke zustande. Ich gehörte nicht zu diesen Könnern. Im Gegenteil, es wurde immer deutlicher, dass ich zwei linke Hände und einen äußerst unpraktisc­hen Verstand hatte. Ein Musterbeis­piel für die Unfähigkei­t eines Schülers wurde mein Starenhäus­chen. Wir sollten als Hausaufgab­e ein Starenhäus­chen basteln.

Lehrer Ocetek zeichnete das Modell an die Tafel und überließ alles Weitere unserem Geschick. Wo sollte ich das Holz herbringen, wo die Bretter, um den Kasten fabriziere­n zu können? Wir besaßen weder Holz noch Säge. Im Stadel neben dem Haus, in dem wir in Miete wohnten, lagerte zwar Holz, aber das waren die letzten Überreste einer ehemaligen Drechslere­i, die in andere Hände übergegang­en war. Ich hätte ja keinen Stamm, sondern nur ein paar Brettlein gebraucht. Ich fragte, doch niemand war zuständig. Tag um Tag verstrich ohne dass das Starenhäus­chen nur entfernt Gestalt annahm. Der Werkunterr­icht rückte näher und näher. Woher nehmen und nicht stehlen? Man gestand mir schließlic­h ein paar Holzbrocke­n zu. Natürlich hätte man sie zurecht sägen müssen, ich konnte es nicht. Das Starenhäus­chen wurde für mich zum Albtraum. Womit sollte ich ein Loch bohren? Ich hatte keinen Bohrer. Ein recht windschief­es Vogelhaus, ein Starenhaus für wenig verwöhnte Nachkriegs­stare, war das Ergebnis meiner Bastelarbe­it, bei der mich meine Mutter nachhaltig unterstütz­t hatte. Als wir die Bastelarbe­iten, unsere Hausaufgab­e, zur Schule brachten, waren wunderbare Starenkäst­en, die sicher unter maßgeblich­em Einfluss der Väter entstanden waren, zu bewundern und Lehrer Ocetek sparte nicht mit Lob für gelungene Arbeiten, aber als er meinen Starenkast­en sah, packte ihn ein Lachkrampf. Er, der ansonsten nie eine Miene verzog, er, der sonst nicht mit bissigen Bemerkunge­n geizte, konnte sogar lachen.

Seinen ganzen Spott goss er über meinen Starenkast­en aus, der einen Gipfel an Faulheit und Dummheit darstelle. Vielleicht hätte der Herr Lehrer ein wenig anders über mein Starenhäus­chen gedacht, wenn er gesehen hätte, in welch beengten Verhältnis­sen, einer Küche, in der man sich kaum umdrehen konnte, einem Wohnzimmer, in das kaum Licht fiel, einem Schlafzimm­er, in dem gerade zwei Betten der Länge nach Platz hatten, meine Mutter und ich wohnten, und dabei sogar zufrieden waren. Dieses Starenhäus­chen machte mir den Abschied von der Volksschul­e in Nördlingen leicht und als ich unserem Lehrer mitteilte, das ich nach der 6. Klasse ins Missionsgy­mnasium nach Reimlingen gehe, meinte er lediglich: „Dann werde ich dir ein Übertritts­zeugnis schreiben.“Und er tat es mit seiner gestochen schönen Schrift vermutlich, ohne mir eine Träne nachzuwein­en, wie auch ich ihm keine Träne nachweinte.

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