Mittelschwaebische Nachrichten
Singen macht immer noch Freude
Gertrud Deckner wird heute 95 Jahre alt. Sie lebt in Rieden in einem Vier-Generationen-Haus
Rieden Leibliche Kinder hat sie nicht, dennoch viele inzwischen längst erwachsene Kinder, Enkelkinder und drei Urenkel, die ihr alle sehr ans Herz gewachsen sind. „Ich war immer bei Kindern“, sagt Gertrud Deckner, die heute bei ihrer Pflegetochter in Rieden den 95. Geburtstag feiert. Sie hat viel zu erzählen aus ihrem langen Leben.
Gertrud Deckner stammt aus „dem schönen Sachsen“, wie sie sagt, aus Waldau im Landkreis Weißenfels, aber seit Jahrzehnten schon ist ihr die Region Günzburg Heimat. Sie weiß es noch genau: An ihrem 21. Geburtstag hat sie Sachsen verlassen, um ihrer Arbeitsdienstleiterin nach München zu folgen. Dort fielen bald Bomben, Gertrud Deckner kam nach Günzburg. In der evangelischen Kinderkrippe fand sie Arbeit, und als diese aus finanziellen Gründen geschlossen wurde – heute ist dort das zweite evangelische Günzburger Pfarramt – stand für die ledige junge Frau fest: Die kleine Dorothea, eins der Krippenkinder, soll bei ihr bleiben. Gertrud Deckner sorgte für sie wie eine Mutter. Sie fand in Günzburg bei der Arztfamilie Goerlich eine Stelle, später bei der Lehrerfamilie Guggenberger – und immer gehörten Gertrud Deckner und ihre Pflegetochter Dorothea mit zur Familie. Während Altersgenossen schon längst in Rente waren, wurde Gertrud Deckner noch immer gern gerufen, wenn es drum ging, die Weihnachtsgans zu braten oder Geburtstagskuchen zu backen. „Richtig aufgehört zu arbeiten hab ich mit 70“, sagt sie.
Dann war endlich Zeit, um mit ihrem Lebenspartner Herbert, den sie schon lange als guten Nachbarn gekannt, aber erst mit 66 Jahren ganz fest ins Herz geschlossen hat, zu reisen. Das von ihr liebevoll so genannte „Blaue Büchle“hat Gertrud Deckner griffbereit neben dem Sessel liegen, ihr Herbert hat darin akribisch alle Reisen mit Ziel und Datum aufgeschrieben. Teneriffa, Marokko, Israel und Ägypten zählt die 95-Jährige auf, aber auch in der Lüneburger Heide, an der Mosel und am Plattensee, in Dresden und im Zillertal waren Herbert und Gertrud. Und immer wieder am Cavedinesee in Südtirol. Heute sind solche Reisen nicht mehr möglich. Gertrud Deckner trauert immer noch um den lieben Lebenspartner, mit dem sie 24 Jahre verbringen durfte. Ihr Radius ist kleiner geworden, die Beine sind nicht mehr so stark. Aber ihr Gedächtnis ist noch hellwach und die Singstimme, die ist noch kräftig, und wenn die 95-Jährige einmal in der Woche zur Diakonie-Tagespflege geht, dann singt sie dort mindestens genauso gern wie früher im Günzburger Gesangverein Frohsinn und im Kirchenchor.
Beim Singen geht ihr das Herz auf, ebenso wenn Dorothea Restles Enkelsohn Julian sie morgens begrüßt und mit seinen etwas mehr als zwei Jahren schon eifrig hilft, den Frühstückstisch für die „Uri“zu decken. „Dann strahlt sie“, sagt Dorothea Restle. Mit der Fürsorge für die 95-Jährige, die nie leibliche Kinder hatte, aber auch heute noch ein großes Herz für Kinder, will Restle ihrer Pflegemutter danken.
„Ich habe eine schöne Kinderzeit gehabt!“, sagt Dorothea Restle. Und so sorgt sie jetzt wie selbstverständlich für die alte Dame und sagt nicht ohne Stolz: „Wir sind ein Vier-Generationen-Haus.“Mehr als 90 Lebensjahre trennen Julian, den Jüngsten im Haus, und die „Uri“. Aber sie verstehen sich prächtig.