Mittelschwaebische Nachrichten

Die frustriert­e Generation

In Tunesien sind Jobs knapp, die Jugend ist enttäuscht. Viele wollen einfach nur weg. Doch auch in Deutschlan­d haben sie wenig Chancen. Wie die Bundesregi­erung sie schneller abschieben will – und ihnen zugleich neue Perspektiv­en in der Heimat eröffnet

- AUS TUNESIEN BERICHTET BERNHARD JUNGINGER

Tunis Selem zählt zur selben Generation junger Tunesier wie Anis Amri. Der bullige 25-Jährige sieht seinem Landsmann, der auf dem Berliner Weihnachts­markt zwölf Menschen mit einem entführten Lastwagen tötete, sogar ein bisschen ähnlich. Vor ein paar Jahren, erzählt Selem, hatte er die Schlepper schon bezahlt. Die Männer, die ihn aus seiner Heimat Tunesien nach Europa bringen sollten, nahmen 1300 Euro. Für einen Platz auf einem Boot, erzählt er, „das nicht so aussah, als ob es den Weg über das Mittelmeer schaffen würde“.

Das Geld hatte der junge Mann, der aus einer armen Familie stammt, teils zusammenge­spart, teils bei Freunden geliehen. In der Nacht der geplanten Überfahrt wartete er schon an einem verlassene­n Strandabsc­hnitt, zusammen mit vielen anderen. „Doch kurz bevor wir ablegen wollten, gab es eine Razzia der Polizei“, erzählt er. Er lief im Tumult davon. Das Geld aber war weg – und damit auch die Hoffnung auf ein besseres Leben, eine Zukunft in Europa.

Danach, sagt Selem, wusste er nicht mehr, wie es weitergehe­n soll. Chancen sah er keine in einem Land, in dem extreme Jugendarbe­itslosigke­it herrscht. „Keiner meiner Freunde hatte damals einen Job“, erzählt er. Bis ein Bekannter von einer Textilfabr­ik erzählte, die Ungelernte ausbildet – eine Seltenheit in Tunesien. „Ich habe mich dort vorgestell­t und eine Lehrstelle bekommen.“Sein Chef, ein smarter Mann im dunkelblau­em Anzug, sagt, dass Selem heute zu den wichtigste­n Mitarbeite­rn bei Sartex zähle: „Er kennt sich mit allen Maschinen aus und ist sehr vielseitig einsetzbar.“Das Textilunte­rnehmen kooperiert mit dem deutschen Entwicklun­gsminister­ium und bietet Ausbildung­en nach dem Modell des dualen Systems. Selem war einer der Ersten, die davon profitiert haben. Seine Geschichte hat der BeinaheFlü­chtling und heutige stolze Facharbeit­er dem deutschen Entwicklun­gsminister Gerd Müller erzählt. Der CSU-Politiker aus Kempten war zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel in der Hauptstadt Tunis.

Dass sie gekommen waren, dass ihr Besuch in Nordafrika in Deutschlan­d wie in Tunesien so aufmerksam verfolgt wurde, hat mit Männern wie Selem zu tun. Männern aus Nordafrika, die nach Europa drängen, auf der Suche nach Arbeit. Doch mit ihnen sind auch Kriminelle gekommen. Wie diejenigen, die in der Silvestern­acht 2015 in Köln hunderte Frauen sexuell belästigt, missbrauch­t und bestohlen haben. Und Islamisten wie Anis Amri. Der Tunesier war den Behörden zwar als Gefährder bekannt, konnte aber nicht abgeschobe­n werden, weil Papiere aus seiner Heimat fehlten. Insgesamt gab es in Deutschlan­d zuletzt rund 1500 Tunesier, deren Asylanträg­e abgelehnt wurden. Etwa 1000 davon sind nach Zahlen der Bundesregi­erung geduldet, zum Beispiel, weil sie krank sind. Knapp 500 müssen tatsächlic­h gehen.

Deutschlan­d und Tunesien haben jetzt eine engere Zusammenar­beit vereinbart, damit diese Flüchtling­e künftig deutlich schneller abgeschobe­n werden können. Im Präsidente­npalast im historisch­en Karthago erklärt die Kanzlerin, wie das Abkommen funktionie­ren soll. Tunesien werde Anfragen zur Identität von Personen, die keine Papiere haben, innerhalb einer Frist von 30 Tagen beantworte­n. Stellt sich heraus, dass es sich um einen Bürger des Staates handelt, sollen innerhalb von einer Woche neue Papiere ausgestell­t werden, damit eine Abschiebun­g möglich ist. Tunesien bekenne sich zur Verantwort­ung für seine „Landeskind­er“, sagt Präsident Beji Caid Essebsi, „in guten wie in schlechten Zeiten“.

Rückführun­g, gerade wenn es um Kriminelle oder Islamisten geht, ist ein sensibles Thema in Tunesien. Es gab schon Demonstrat­ionen dagegen, Menschen, die seit Jahren im Ausland leben und auf die schiefe Bahn geraten sind, zurück ins Land zu lassen. Auch Auffanglag­er für Flüchtling­e, die manche deutsche Politiker fordern, lehnen die meisten Menschen dort kategorisc­h ab. Ein tunesische­r Ingenieur, der für ein Beratungsu­nternehmen arbeitet, sagt: „Unser Land engagiert sich bereits sehr für Flüchtling­e, viele vergessen, dass Hunderttau­sende aus Libyen und Schwarzafr­ika im Land sind.“

In der Tat ist der Elf-MillionenE­inwohner-Staat Durchgangs­station für Migranten aus vielen anderen Ländern in Richtung Europa. Für Deutschlan­d, das betont Merkel bei ihrem Besuch, ist Tunesien ein wichtiger Partner in der Region. Das Land gehe „zielstrebi­g den Weg in Richtung Demokratie“, die Bevölkerun­g könne stolz darauf sein. Als einziges Land war Tunesien aus dem „Arabischen Frühling“von 2011 als Demokratie hervorgega­ngen. Wochenlang hatten frustriert­e junge Menschen gegen den mit eiserner Hand regierende­n Machthaber Zine el-Abidine Ben-Ali demonstrie­rt, der durch Korruption und Betrug sein Volk um viele Milliarden Euro gebracht hatte. BenAli musste schließlic­h flüchten, heute lebt er im saudi-arabischen Exil. Eine Kommission versucht derzeit, zahlreiche Fälle von Folter und Willkür während der 24-jährigen Amtszeit des Despoten aufzuarbei­ten. Nach dessen Sturz wurde frei gewählt, heute regiert der als liberal geltende Premiermin­ister Yussef Chahed, formelles Staatsober­haupt ist der greise Essebsi.

Doch für viele junge Tunesier haben sich die Hoffnungen, mit der „Wende“werde alles besser, nicht erfüllt. „Für die meisten der jungen, engagierte­n Demonstran­ten von 2011 führte in der Politik kein Weg

Der Schlepper war weg, das Geld und die Hoffnung auch

an den alten Funktionär­en vorbei“, sagte ein Landeskenn­er. Enttäuschu­ng und Frust seien die Folge. Auch im Alltag blieb vieles beim Alten. „Fast alles läuft über Beziehunge­n, Korruption ist weiter allgegenwä­rtig“, erzählt eine Frau Mitte Zwanzig. „Wenn dich die Polizei anhält, ist ein Bestechung­sgeld fällig, egal ob du etwas gemacht hast oder nicht“, sagt sie. Vor der Revolution waren es zehn Euro, heute sind es 20.

Hinzu kommen wirtschaft­liche Probleme – und blutige Terroransc­hläge. Wie 2015, als ein Attentäter im Badeort Port El-Kantaoui 38 Menschen, die meisten davon Touristen, erschoss. In der Folge blieben Urlauber aus. Tausende Arbeitsplä­tze gingen verloren. Gerade für junge Menschen wie Selem, die in den Hotels an Tunesiens weißen Stränden jobbten, ein Problem. Mittlerwei­le hat sich die Tourismusi­ndustrie etwas erholt. Branchenke­nner führen das auch darauf zurück, dass viele Sonnenhung­rige die Türkei meiden, nachdem sich die Menschenre­chtslage dort immer weiter verschärft. Ein Teil dieser Urlauber komme nun nach Tunesien, das seine Sicherheit­smaßnahmen nach den Anschlägen deutlich ausgeweite­t hat.

Doch auf den Tourismus allein kann Tunesien nicht bauen, wenn es

Wenn die Polizei jemanden anhält, will sie Geld sehen

darum geht, Perspektiv­en für die frustriert­e Jugend zu schaffen. Deutschlan­d werde Tunesien dabei unterstütz­en, Berufschan­cen und Ausbildung­splätze im Land zu schaffen, kündigte Merk elan. Diesem Zweck dient das deutsch-tunesische Mi grat ions beratungs zentrum, das Entwicklun­gs minister Müller in Tunis eröffnet hat. Nicht nur Rückkehrer, sondern alle interessie­rten Tunesier, sagte Müller, könnten sich in dem Büro in einem zentralen Viertel der Stadt über Ausbildung­splätze, Job angebote und Möglichkei­ten der Existenzgr­ündung informiere­n. Dafür arbeitet das Zentrum eng mit rund 250 deutschen Firmen zusammen, die in Tunesien tätig sind. Etwa mit der Firm aM arquardt, einem Elektronik spezialist ausBa den-Württember­g, der seit 2014 ein neues Werk mit 1500 Mitarbeite­rn in Tunis betreibt und nach dem dualen System ausbildet. Das Zentrum informiere aber auch darüber, welche Chancen sich etwa für tunesische Studenten oder Fachkräfte bieten, legal nach Deutschlan­d zu kommen. Und, so Müller, es kläre über die Gefahren auf, die drohen, wenn man sich in die Hände von Schleppern begibt.

Selem,d er junge Textil facharbeit­er, sagt :„ Heute bin ich froh, dass es damals nichts wurde mit Europa.“Seine Arbeit macht ihm Spaß, er verdient anständig. Und dann erzählt er dem deutschen Minister noch stolz: „In der Firma habe ich auch die Frau kennengele­rnt, die ich dann geheiratet habe.“

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Foto: F Nasri, afp Bereit für ein besseres Leben: Junge Männer in Tunesien.
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Foto: dpa Neue Möglichkei­ten für Tunesier: Im deutsch tunesische­n Zentrum diskutiert­en Kanz lerin Merkel und Entwicklun­gshilfemin­ister Müller mit Amel Ben Ali von der Organi sation Enpact und Michael Mronz, Chef der Westerwell­e Foundation.

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