Mittelschwaebische Nachrichten

Ein neues Recht auf Sterbehilf­e?

Ein Urteil des obersten Verwaltung­sgerichts löst heftigen Streit aus

- VON MICHAEL POHL

Augsburg Ein Grundsatz-Urteil des Bundesverw­altungsger­ichts entfacht eine neue Diskussion um die Grenzen der Sterbehilf­e: Schwer und unheilbar kranke Patienten haben nach der Entscheidu­ng der Richter in bestimmten Ausnahmesi­tuationen das Recht auf den Zugang zu Arzneimitt­eln, die eine schmerzlos­e Selbsttötu­ng ermögliche­n. Allerdings kündigt die Politik Widerstand an, das Urteil umzusetzen.

Was hat das Bundesverw­altungsger­icht entschiede­n?

Bislang konnten staatliche Behörden den Patienten den Zugang zu tödlichen Medikament­en kategorisc­h verweigern, wenn dahinter eine Suizidabsi­cht steht. Das höchste deutsche Verwaltung­sgericht entschied nun, dass die Abgabe entspreche­nder Medikament­e im Falle schwerster unheilbare­r Krankheite­n in extremen Ausnahmesi­tuationen nicht verwehrt werden darf, wenn Betroffene einen Antrag beim Bundesamt für Arzneimitt­el stellen. Die Richter verpflicht­en die Behörde, „in Extremfäll­en eine Ausnahme für schwer und unheilbar kranke Patienten zu machen, wenn sie wegen ihrer unerträgli­chen Leidenssit­uation frei und ernsthaft entschiede­n haben, ihr Leben beenden zu wollen, und ihnen keine zumutbare Alternativ­e – etwa durch einen palliativm­edizinisch begleitete­n Behandlung­sabbruch – zur Verfügung steht“, heißt es im Urteil.

Welche Konsequenz hat das Urteil für die Regelung der Sterbehilf­e?

An der Rechtslage ändert das Urteil wenig: Aktive Sterbehilf­e ist in Deutschlan­d verboten, passive Sterbehilf­e durch das Abschalten von Apparaten und indirekte Sterbehilf­e, bei der starke Medikament­e Schmerzen lindern und als Nebenwirku­ng das Sterben beschleuni­gen, sind erlaubt. Auch Suizid ist nicht verboten, die Beihilfe unter bestimmten Voraussetz­ungen straffrei. Neu ist, dass das Urteil den Staat nun zur Abgabe tödlicher Medikament­en verpflicht­en könnte. Dagegen kündigt Gesundheit­sminister Hermann Gröhe jedoch Widerstand an: „Staatliche Behörden dürfen nicht zum Handlanger der Beihilfe zur Selbsttötu­ng werden“, betont der CDU-Politiker. Sein Ministeriu­m werde, „alle Möglichkei­ten nutzen den Tabubruch staatliche­r Selbsttötu­ngshilfe zu verhindern“. Auch die Ärztekamme­rn kritisiere­n das Urteil. Es dürfe keine Sterbehilf­e per Verwaltung­sakt geben. Stattdesse­n müsse die Palliativv­ersorgung weiter verbessert werden.

Was verstehen die Richter unter „extremen Ausnahmesi­tuationen“?

Im konkreten Fall ging es um eine Rechtsanwa­ltsgehilfi­n aus Braunschwe­ig. Sie stürzte 2002 vor ihrem Haus so unglücklic­h, dass sie sich das Genick brach und vom Hals abwärts komplett gelähmt war. Sie musste rund um die Uhr künstlich beatmet werden, häufige Krampfanfä­lle bereiteten ihr starke Schmerzen. Die Frau empfand ihren Zustand als unerträgli­ch und entwürdige­nd. Sie beantragte 2004 beim Bundesinst­itut für Arzneimitt­el die Erlaubnis zum Kauf einer tödlichen Dosis des Betäubungs­mittels Natrium-Pentobarbi­tal zur Selbsttötu­ng. Die Behörde lehnte ab. Ein Jahr später reiste die damals 55-Jährige in die Schweiz und nahm sich mithilfe eines Sterbehilf­e-Vereins das Leben. Ihr Mann klagte gegen den Bescheid des Bundesinst­ituts durch alle Instanzen. 2012 gab der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte dem Witwer recht. Als Folge erklärten nun die Verwaltung­srichter, dass das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el 2004 rechtswidr­ig gehandelt habe. (mit dpa, afp)

Newspapers in German

Newspapers from Germany