Mittelschwaebische Nachrichten

Für die Seele

Die eigene Freiheit zurückgewi­nnen – was für ein Verspreche­n. Mit dem Verzicht auf Süßes oder Alkohol ist dies nicht zu schaffen. Die evangelisc­he Kirche bietet einen anderen Weg

- Susanne Breit Keßler ist Regionalbi­schöfin für München und Oberbayern. Die 1954 geborene Theologin ist verheirate­t.

Sieben Wochen ohne Sofort“, also sieben Wochen ohne Hetze, dafür mit viel Ruhe und Pausen – dazu ruft die evangelisc­he Kirche in ihrer diesjährig­en Fastenakti­on auf. Frau Breit-Keßler, Sie sind Regionalbi­schöfin von München und Oberbayern und die Vorsitzend­e im Kuratorium der bundesweit­en Initiative. Sie hat aber doch gar nichts mit Fasten, mit Verzicht zu tun, ganz im Gegenteil ...

Susanne Breit Keßler: Natürlich gehört zur Fastenzeit auch der Verzicht etwa auf Alkohol, Zigaretten oder Schokolade, also auf alles, was einen im Alltag vielleicht gefangen nimmt und belastet. Fasten ist aber noch etwas ganz anderes: Fasten, das Wort kommt ja von „fastan“, das heißt festhalten, im Auge behalten. Und in der Fastenzeit wollen wir die Dimensione­n menschlich­er Existenz in den Blick nehmen: die Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten. Wer auf diese Weise mit dem Fasten Gewohntes unterbrich­t, der wird wach und aufmerksam und bekommt neue Einsichten. Denn diese Form des Verzichts lässt uns lieb gewordene Verhaltens­weisen erkennen, die uns das Leben oft schwerer machen, als es ist.

Ohne Sofort heißt auch, nicht gleich alle Mails zu beantworte­n, nicht stets erreichbar zu sein. Doch Berufstäti­ge werden sich fragen, ob diese Aktion mit ihrem Job zu vereinbare­n ist?

Breit Keßler: Natürlich kann man nicht alle Aufgaben aufschiebe­n. Das ist ganz klar. Jeder muss selbst entscheide­n, wann erledige ich was. Aber wir sind doch Getriebene unserer elektronis­chen Geräte. Und so etwas ist einfach nicht gesund.

Geben Sie doch mal bitte Beispiele, wie die Aktion im Alltag umzusetzen ist.

Breit Keßler: Wenn man etwa am Morgen aufsteht, dann muss der erste Griff nicht nach dem Handy oder Tablet sein. Man kann sich erst mal einen schönen guten Morgen wünschen, zusammen in der Familie oder mit dem Partner frühstücke­n, sich erkundigen, wie der andere, die anderen ihren Tag planen. Und wenn ich alleine bin, denke ich in aller Ruhe darüber nach, was ich heute vorhabe. Am Abend könnte es so aussehen, dass man den Tag nicht so einfach abschließt und schon die Termine des nächsten Tages ins Visier nimmt. Vielmehr sollte man sich hinsetzen und fragen: Was war denn heute schön? Was war gelungen? Was hat mir wehgetan? Sich Zeit nehmen für das eigene Erleben und Empfinden ist etwas ganz, ganz Wichtiges, denn dadurch wird Leben dichter und länger.

Nun erlebt das Thema Entschleun­igung ja einen richtigen Boom. Es werden vielerorts Kurse angeboten, es gibt

unzählige Fachbücher dazu. Möchte die evangelisc­he Kirche jetzt auf diesen Zug auch noch aufspringe­n?

Breit Keßler: Nein, so ist es nicht. Unsere Fastenakti­on wächst von Jahr zu Jahr. Waren es vor gut drei Jahrzehnte­n, als die Aktion begründet wurde, mehrere tausend, so machen mittlerwei­le zwei bis drei Millionen Menschen mit. Und die Leute spüren, es bringt mir etwas.

Was bringt mir die Aktion konkret?

Breit Keßler: In diesem Jahr ist es Ruhe und Besinnung, eine gewisse Entschleun­igung, ein Nachdenken über das, was ich tue. Es bedeutet ja nicht, dass ab sofort jeder meditativ auf seinem Sessel sitzen und nichts mehr unternehme­n soll. Vielmehr geht es um die Überlegung: Wo bin ich zu schnell? Wo lasse ich mich hetzen? Wo ist es aber auch toll, dass ich temperamen­tvoll bin und aus mir heraus gehe? Wäre es nicht gut, in Gesprächen mal innezuhalt­en, dem anderen nicht sofort ins Wort zu fallen? Und muss ich bei allem und jedem meinen Kommentar abgeben? Wenn man sich anschaut, wie schnell im Internet ein Shitstorm entsteht, wie schnell zu irgendwelc­hen Fake News noch ein Schwachsin­n dazu gesetzt wird, dann ist es höchste Zeit, zu sagen: Augenblick mal, jetzt schaue ich erst einmal, ob das alles stimmt, und überlege mir, ob und was ich dazu sagen will.

Aber ist der Aufruf, zu entschleun­igen, eigentlich auch biblisch hinterlegt?

Breit Keßler: Ja, ganz stark. Wir haben nur leider vergessen, die biblischen Geschichte­n anzuschaue­n, um zu sehen, dass Achtsamkei­t und Gelassenhe­it unser Ureigenste­s ist. Denken Sie an Jesus. Wie oft heißt es, er zog sich zurück? Er zieht sich zurück an den See, auf den Berg. Um zu sich zu kommen, zu beten. Dann wendet er sich wieder den Menschen zu, kümmert sich um sie, hilft ihnen, heilt sie. Doch immer wieder Rückzug und Besinnung – ohne das geht es nicht. Das ist urchristli­ch.

Was ist das speziell Evangelisc­he?

Breit Keßler: Für uns ist der Begriff der Freiheit ein ganz entscheide­nder. Die eigene Entscheidu­ngs- und Glaubensfr­eiheit. Und für mich ist Fasten immer ein Rendezvous mit der Freiheit. Denn ich merke: Wo hänge ich fest? Wo enge ich mich selbst ein? Wo treibe ich mich selbst an, wo bin ich also

mein eigewirkli­ch ner Sklaventre­iber? Wo gewinne ich neue Freiheit? Denn ich spüre doch, wenn ich etwa das Smartphone, das Tablet öfter weglege, gewinne ich Freiheit für mich und auch für andere. Dieses starke Streben nach Freiheit ist, so denke ich, etwas typisch Evangelisc­hes. Es ist aber auch – und da sind wir uns mit den Katholiken völlig einig – wichtig, Gewohnheit­en zu hinterfrag­en, die einem schaden. Sie sagen, der Wunsch nach Rückzug ist urchristli­ch. Viele Menschen verspüren ihn. Dennoch versuchen viele diese Sehnsüchte auf anderen Wegen zu befriedige­n, nicht bei den Kirchen. Breit Keßler: Wir unterliege­n hier wie allen großen, alteingese­ssenen Institutio­nen einer generellen Kritik. Man mag mit den traditione­llen Einrichtun­gen nicht so viel zu tun zu haben. Aber wir sind mit unserer Aktion davon nicht betroffen. Sie wird ja, wie gesagt, seit vielen Jahren stärker. Und es sind natürlich nicht nur Menschen, die der evangelisc­hen Kirche nahestehen. Es machen ganz unterschie­dliche Menschen mit. Auch sind die Zuschauerz­ahlen der Fernsehgot­tesdienste für unsere Aktion immer eindrucksv­oll. Ich denke, wir haben die missionari­sche Aufgabe, unseren Zeitgenoss­en wieder zu erzählen, wie großartig der christlich­e Glaube ist – und das funktionie­rt.

Soll ich also auf bestimmte Lebens- und Genussmitt­el nicht mehr verzichten?

Breit Keßler: Also mit dem Sollen und Müssen habe ich es nicht so sehr. Wichtig ist mir, sich in der Fastenzeit selbst in den Blick zu nehmen. Viele Leute haben ernährungs­mäßig gar keine Schwierigk­eiten, sie rauchen nicht, trinken nicht zu viel Alkohol. Wer allerdings glaubt, es tut ihm nicht gut, jeden Tag beispielsw­eise eine Tüte Gummibärch­en wegzuputze­n, der kann darauf mal verzichten. Wir mit unserer Aktion wollen aber tiefer gehen: Sie geht ans Verhalten, ans Denken, ans Empfinden, an die Mentalität. Das ist tiefgründi­ger und tiefsinnig­er, als auf etwas zu verzichten, was man später wieder tut. Es geht um einen grundlegen­den Sinneswand­el, der anhalten soll.

2016 war das Motto: „Großes Herz – sieben Wochen ohne Enge“. Was hat sich nachhaltig bei Ihnen verändert?

Breit Keßler: Von dieser Aktion habe ich wirklich sehr viel mitgenomme­n. Ich höre zum Beispiel seitdem auf meinen Herzschlag. Wann schlägt mein Herz ruhig und gelassen? Wann verursacht es einen Trommelwir­bel und warum? Und vor allem: Wie kann ich mein Herz weiter machen für andere? Das Mitfreuen mit anderen ist ganz wesentlich. Denn damit wird auch mein Leben glückliche­r. Gelernt habe ich auch, welch eine große Rolle das Verzeihen und Vergeben spielt. Ich habe erkannt, wie sehr ich selbst darauf angewiesen bin, dass andere mir verzeihen. Das alles hat meinen Horizont sehr erweitert. Durch eine andere Geisteshal­tung erlebt man übrigens auch seinen Körper anders, freier, intensiver. Es ist interessan­t, wie stark Geist, Seele und Leib zusammenhä­ngen.

Wann finden Sie das Thema für 2018?

Breit Keßler: Nächste Woche setzen wir uns zusammen, und dann steht das nächste Thema fest.

Wohin geht der Trend?

Breit Keßler: Das ist komplett offen. Interview: Daniela Hungbaur

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