Mittelschwaebische Nachrichten

Er ist wieder da

Das Geld und die Welt, Gesellscha­ft und Gerechtigk­eit – es geht um weit mehr als Nostalgie zum Jubiläum. Karl Marx ist präsent wie lange nicht. Jetzt auch als Held eines Kinofilms. Aber was hat er uns wirklich noch zu sagen?

- / Von Wolfgang Schütz

Der Fortschrit­t bringt die Umwälzung – aber wohin?

1. Glauben Sie, dass der Kapitalism­us heute für ein zunehmende­s Ungleichge­wicht zwischen Arm und Reich sorgt? 2. Glauben Sie, dass es eine immer stärkere Ballung des Geldes in den Händen weniger gibt und damit eine Verschiebu­ng der Macht? 3. Glauben Sie, dass die Regierende­n nicht mehr imstande sind, diese Dynamik zum Wohle der großen Mehrheit zu kontrollie­ren? 4. Glauben Sie, dass diese Entwicklun­g auf Kosten des normalen Arbeiters geht und dass der daraus bei ihm wachsende Unmut gefährlich für die Demokratie werden wird? 5. Sind Sie Marxist?

Die Wahrschein­lichkeit ist sehr groß, dass Sie die letzte Frage entschiede­n mit Nein beantworte­n. Weil Sie doch schließlic­h weder Kommunist sind noch von der großen Erhebung der Arbeiterkl­asse träumen. Aber die vorherigen vier Fragen? Gibt es nicht für all das aktuell deutliche Anzeichen? Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch Joseph Stiglitz, immerhin Träger des Wirtschaft­snobelprei­ses, rechnet am Beispiel Großbritan­nien vor, wie die Finanzelit­en der Gesellscha­ft das Geld entziehen. Wurden um 1970 noch etwa zehn Prozent der Gewinne von Unternehme­n an ihre Gesellscha­fter ausgeschüt­tet und der Rest investiert – heute beträgt die Quote der Ausschüttu­ng 70 Prozent. Und das bedeute, so der Wirtschaft­sprofessor, eine stetig steigende Gefahr für die Stabilität unserer Staaten. Wirtschaft­lich, sozial, politisch.

Aber auch Karl Marx investiert­e ja einst sein immer knappes Geld in Aktien – wenn auch ohne jeglichen Erfolg. Und vor allem betonte dieser Karl Marx, er sei ganz sicher eines nicht: Marxist! Nicht der Chefideolo­ge des Kommunismu­s, nicht die Ikone der Kapitalism­uskritik, nicht der Aufrührer und Anführer des Klassenkam­pfs also, zu dem er trotzdem noch lange nach seinem Tod am 13. März 1883 auf Fahnen und Postern erstarrt schien. Was war, was sagte, was wollte er dann?

Das eben hängt nun wesentlich mit den ersten vier Fragen zusammen. Uns heute sehr aktuell scheinende­n Fragen. Und darum wirkt dieser Karl Marx nun auch wie aus seiner Ikonenstar­re erwacht.

Darum darf er nun nicht nur, gespielt von August Diehl im Kinofilm „Der jungte Karl Marx“, seit Donnerstag visionär tönende, frühe Sätze einem gewiss nicht bloß kleinen und gewiss nicht bloß linken Publikum aufsagen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellscha­ften ist die Geschichte von Klassenkäm­pfen“; „Die Philosophe­n haben die Welt nur verschiede­n interpreti­ert, es kommt darauf an, sie zu verändern!“; da war er noch nicht mal Mitte 20… Und über Karl Marx wird nicht nur so viel geschriebe­n wie nie zuvor, weil sich diesen November die Veröffentl­ichung seines späten Hauptwerke­s, „Das Kapital (Teil 1)“, zum 150. Mal jährt, und weil 2018 sein 200. Geburtstag ansteht. Durch seine Gedanken zu Fragen wie den ersten vier Fragen spielt er vor allem auch eine Rolle in den aktuellen Debatten über Fluch und Segen des Kapitalism­us. Die Zweifel haben auch ohne Marx in Zeiten der Digitalisi­erung und der Globalisie­rung deutlich zugenommen. Aber was kann man denn nun darüber mit Marx besser verstehen?

Dazu muss man gerade den frühen Marx weitestgeh­end hinter sich lassen, der mit Friedrich Engels im „Kommunisti­schen Manifest“1848 noch schloss: „Proletarie­r aller Länder vereinigt euch!“Denn dieser Marx führt tatsächlic­h in den globalen Klassenkam­pf. Mit einem seiner heute wirkmächti­gsten Ausdeuter gesprochen, dem philosophi­schen Debattenkö­nig Slavoj Zizek aktualisie­rt: In der Globalisie­rung werden die Arbeiter der Wohlstands­welt genauso ausgebeute­t wie die Bevölkerun­g in ärmeren Ländern. Statt aber miteinande­r um die Brotkrumen der Weltwirtsc­haft zu ringen, wachsendes Prekariat gegen wachsende Flüchtling­sströme, müssten die Unterdrück­ten gemeinsam eine Teilhabe einfordern. Nun mag zwar auch Wolfgang Schäuble einräumen, eine Rettung Europas hänge unweigerli­ch mit einer Rettung Afrikas zusammen. Aber der Traum von einer Revolte der Klassensol­idarität über alle Grenzen hinweg bringt in Wirklichke­it wohl nur Mehrheiten für viel härtere Grenzen. Und wie viel bei einem oben verordnete­n Heil im Namen irgendeine­s Marxismus von Gerechtigk­eit übrig bleibt, davon konnten sich Deutschlan­d und die Welt auch schon überzeugen…

Viel fruchtbare­r ist ein anderer Marx. Der nämlich wollte vor allem verstehen. Wie Gesellscha­ften funktionie­ren, wann es zu Krisen des Systems und zu Umwälzunge­n der Gesellscha­ft kommt. Und entscheide­nd dafür ist die wirtschaft­liche Entwicklun­g und eben dabei der technische Fortschrit­t. So sieht Marx im Aufkommen des Kapitalism­us ja zuallerers­t auch eine Befreiung aus der ständische­n Gesellscha­ft – die nur möglich war durch die Errungensc­haft der Dampfmasch­ine. Denn durch eine Entwicklun­g wie diese stiegen plötzlich die Produktion­skräfte an, und diese sorgten für Druck auf die Produktion­sverhältni­sse und dadurch auch den gesellscha­ftlichen Überbau. Das heißt: Zunächst sprengen die neuen Möglichkei­ten die Formen, in denen das wirtschaft­liche Leben bis dahin in einer Gesellscha­ft organisier­t ist, sie verlangen etwa nach einem anderen Unternehme­rtum – und ist diese Dynamik groß genug, muss sich auch die juristisch­e und politische Struktur ändern. Rein funktional gedacht. Um die gesellscha­ftlichen Unwuchten in ein neues, produktive­s Gleichgewi­cht zu bringen.

Und so hatte Marx es dann auch auf den Kapitalism­us übertragen, hier ausgelöst durch die industriel­le Revolution. Denn auch hier führte ja der Fortschrit­t zu einem dramatisch­en Anstieg der Produktivk­räfte – mussten also nicht die nächsten Umwälzunge­n folgen? Die Hoffnung, von der seine Analyse dabei getragen war: Dass diese Umwälzunge­n wie im Fall der Auflösung der Ständegese­llschaft zu einer immer breiteren Teilhabe der Menschen am wirtschaft­lichen Fortschrit­t führen sollte. Auch, weil das immer breiter erwachende Bewusstsei­n der Bürger danach verlange und die neuen Unwuchten erkenne. Denn der Mensch und sein Bewusstsei­n ist nach Marx ja Produkt der Verhältnis­se. Wohl träumte Marx dadurch von einer schlussend­lichen Reife der Menschen und Gesellscha­ften für den Kommunismu­s, dank des Fortschrit­ts. Aber die tatsächlic­h gravierend­en Unsicherhe­iten und Umwälzunge­n, die auf die industriel­le Revolution schließlic­h folgten, waren Weltkriege und Diktatur.

Hatte Marx also Unrecht? Trotz einiger Belebungsv­ersuche etwa durch die 68er schien er nach der deutschen Wiedervere­inigung beerdigt: Der US-Ökonom Francis Fukuyama rief „Das Ende der Geschichte“aus – denn hatte nicht der Siegeszug des in der Demokratie eingehegte­n Kapitalism­us gezeigt, dass Teilhabe durch ein Wachstum ohne Grenzen am besten durch dieses eine System zu gewährleis­ten war? Zwar gab es Ungleichhe­it, aber als Motor der Entwicklun­g – während Marx glaubte, immer größerer Reichtum weniger Kapitalist­en müsse bei weiterem Fortschrit­t zu neuen Umwälzunge­n führen.

Heute, 25 Jahre nach dem vermeintli­chen Ende der Geschichte, in Zeiten des nächsten großen Fortschrit­ts, der nächsten industriel­len Revolution, digital und global – wirken diese Gewissheit­en noch immer so unumstößli­ch? Denn damit sind wir wieder bei den ersten vier Fragen. Mit Marx unsere Gegenwart lesend könnte man sagen: Wir erleben nicht nur einen dramatisch­en Wandel der Produktivk­räfte, sondern ja auch bereits der Produktion­sverhältni­sse; ein Hybrid aus Internetun­d Finanzkapi­talismus überlagert die bisherigen Ordnungen des Wirtschaft­ens zusehends und generiert dabei ganz neuen Wohlstand; ist die Dynamik groß genug, dass im gesellscha­ftlichen Überbau Druck zu Umwälzunge­n entsteht? Wenn Sie alle vier ersten Fragen mit Ja beantworte­t haben, hegen Sie zumindest gravierend­e Zweifel an der Stabilität der so lange unverbrüch­lich scheinende­n Verbindung zwischen Kapitalism­us und Demokratie. Für dieses Unbehagen muss heute niemand Marxist sein, es kommt von links wie rechts – und auch aus der Mitte.

Damit stellt sich heute eine Frage im Angesicht der Geschichte wieder: Wird der technische Fortschrit­t diesmal zu einer breiteren Form der Teilhabe führen? Oder ins Autoritäre? Denn hier irrte Marx: Der Kapitalism­us ist sehr wandlungsf­ähig, mit ihm ist all das zu machen. Mit der Demokratie aber nicht. Es bleibt wohl wirklich eine Frage des Bewusstsei­ns. Für Marx aber bildete sich dieses automatisc­h aus den Lebensverh­ältnissen – für uns dagegen bleibt offen, was sich ergibt aus jenen ersten vier Fragen.

 ?? Foto: Stadt Trier, dpa ?? 2017: Vor 150 Jahren erschien Teil 1 von „Das Kapital“, des Hauptwerks von MEGA, der Marx Engels Gesamt Ausga be. Und 2018 kommt das nächste Jubiläum: Vor dann 200 Jahren wurde Karl Marx geboren. Seine Heimatstad­t Trier wird eine Statue in der...
Foto: Stadt Trier, dpa 2017: Vor 150 Jahren erschien Teil 1 von „Das Kapital“, des Hauptwerks von MEGA, der Marx Engels Gesamt Ausga be. Und 2018 kommt das nächste Jubiläum: Vor dann 200 Jahren wurde Karl Marx geboren. Seine Heimatstad­t Trier wird eine Statue in der...

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