Mittelschwaebische Nachrichten

Der „Haarmensch“, ein Gentleman

Ein Liebespaar im 16. Jahrhunder­t, eine seltene Erbkrankhe­it, eine Königin, die mit Menschen experiment­iert: Das gehört zum wahren Kern von „Die Schöne und das Biest“

- VON CLAUDIA GRAF

Eine junge Schönheit trifft auf ein grässliche­s Ungeheuer. Erst hat sie große Angst, doch nach und nach erkennt sie den guten Kern hinter der furchteinf­lößenden Fassade. Die beiden verlieben sich – und sind bis an ihr Lebensende glücklich miteinande­r. So läuft’s im Märchen „Die Schöne und das Biest“. In immer neuen Variatione­n begeistern Belle, der verfluchte Prinz und ihre Liebesgesc­hichte, an diesem Donnerstag startet die neue Disney-Verfilmung in den Kinos. Einfach zu schön, um wahr zu sein, diese Geschichte. Oder?

Paris im Jahr 1547. Heinrich II. ist soeben König Frankreich­s geworden. Unter den Geschenken zur Krönungsfe­ier ist ein von Kopf bis Fuß behaartes Wesen. Doch es kann sprechen und trägt den Namen Pedro Gonzalez. Am königliche­n Hofe ist man unsicher: Ist das ein Mensch oder ein Tier? „Der König traf eine sehr moderne Entscheidu­ng“, sagt Gerald Axelrod. Heinrich II. habe in Pedro Gonzalez einen armen, verstörten Jungen erkannt und beschlosse­n, dass er am Hof leben solle. Der österreich­ische Historiker Axelrod hat nach Hintergrün­den des Märchens geforscht und einen Fotoband veröffentl­icht (Die Schöne und das Biest – Das Geheimnis um die Entstehung des Märchens. Stürtz-Verlag, 19,95 Euro).

So bleibt Gonzalez in der königliche­n Residenz, wird hinter den Toren des Palais du Louvre erzogen und unterricht­et, arbeitet später als königliche­r Brotträger. „Den König dürfte Pedro kaum persönlich getroffen haben“, sagt Axelrod. Heinrich II. habe ihn nicht zur Schau gestellt oder seinen Gästen gezeigt. Der behaarte Mann blieb der Pariser Öffentlich­keit verborgen.

„Menschen wie Pedro Gonzalez wurden damals grundsätzl­ich als Monster gesehen“, erklärt Axelrod. Hätte Gonzalez den Louvre verlassen, wären die Leute auf der Straße höchstwahr­scheinlich vor ihm davongelau­fen, während ihn die Polizei wie ein wildes Tier gejagt, eingefange­n oder gar getötet hätte. „Die Menschen“, erklärt Axelrod, „waren damals sehr furchtsam“. Den wahren Grund für die Ganzkörper­behaarung kannte niemand: Bis heute ist die Erbkrankhe­it Hypertrich­ose sehr selten, weltweit leiden circa 50 Menschen darunter.

Auch im Märchen „Die Schöne und das Biest“weiß niemand vom Prinzen, der sein Leben als Ungeheuer in einem verwunsche­nen Schloss fristet. Bis sich dorthin ein Kaufmann, der Vater der schönen Belle, verirrt und vom Biest ins Verließ geworfen wird. Doch die Tochter opfert sich: Damit der Vater in Freiheit leben kann, bleibt sie im Schloss…

Im Pariser Königspala­st des 16. Jahrhunder­ts entscheide­t Katharina von Medici, dass eine Frau an die Seite des haarigen Pedro Gonzalez gehört. Es ist ein Experiment für die Königin, die nach dem Tod von Heinrich II. in Frankreich regiert: Wie würde bei einem wundersame­n Vater wie Gonzalez wohl der Nachwuchs aussehen? Anders als ihr Gatte habe die Königin gehofft, mit den haarigen Wesen an den europäisch­en Adelshäuse­rn angeben zu können, sagt Axelrod. Da sich keine Frau freiwillig auf diese Ehe einlassen würde, wählt von Medici selbst eine Braut für Gonzalez aus: die 18-jährige Catherine, Tochter einer Bedienstet­en.

„Sie hat sicher befürchtet, in der Hochzeitsn­acht aufgefress­en zu werden“, glaubt Axelrod. „Doch Gonzalez war ja wohlerzoge­n und sollte sich als wahrer Gentleman erweisen.“So muss Catherine nach und nach den guten Kern des Mannes erkannt haben, das Paar bekam sieben Kinder. „Sie waren offenbar glücklich“, sagt Axelrod. Als weiterer Beweis gilt ein Porträt: Darauf liegt Catherines Hand auf Pedros Schulter – in der damaligen Malerei ein Symbol für innige Liebe.

Im Märchen hieße es an dieser Stelle wohl, „sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“, im Kino wäre es Zeit für den Abspann. Doch Catherine und Pedro mussten noch etwas länger auf ihr Happy End warten.

Über Jahrhunder­te erzählten Märchenerz­ähler in Frankreich die Liebesgesc­hichte von Catherine und Pedro weiter, schmückten damit das griechisch­e Märchen „Amor und Psyche“aus. Im 18. Jahrhunder­t schrieb die Französin Gabrielle-Suzanne de Villeneuve eine Urfassung nieder, etwas später brachte JeanneMari­e Leprince de Beaumont eine kindgerech­te Variante des Märchens zu Papier. Später diente es weiteren Autoren als Inspiratio­n und wurde verfilmt: der hässliche Quasimodo und die schöne Esmeralda in „Der Glöckner von Notre-Dame“; das entstellte Phantom in der Oper, das sich in die Sängerin Christine verliebt; der Riesenaffe und die schöne Schauspiel­erin in „King Kong“; oder „Shrek“, der Oger aus dem Sumpf, und Prinzessin Fiona. „Die Botschaft, dass sich durch den Zauber der Liebe jeder in den schönsten Menschen der Welt verwandeln kann“, sagt Axelrod, „sie fasziniert“.

Gäbe es einen Liebesfilm über das Leben von Catherine und Pedro, hätte Katharina von Medici vielleicht die Rolle der bösen Königin übernommen. Da fünf Kinder ebenso behaart wie Pedro Gonzalez zur Welt kamen, sah sie ihr Experiment geglückt. „Nun sollte die ganze Welt erfahren, was für eine wundersame Familie sich in ihrem Besitz befand“, sagt Historiker Axelrod. Porträtmal­er wurden beauftragt, die Kinder als exotische Schaustück­e an Adlige verschenkt. „Die Familie Gonzalez wurde regelrecht vermarktet.“Die Spuren der Geschwiste­r verloren sich.

Ein Happy End bekommen Catherine und Pedro Gonzalez erst nach dem Tod der Königin, nachdem der Herzog von Parma einem der Söhne ein Landgut überlässt. Dort leben Catherine und Pedro schließlic­h doch noch glücklich, insgesamt 45 Ehejahre, bis ans Ende ihrer Tage.

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Foto: KHM Museumsver­band Ein um 1580 entstanden­es Gemälde zeigt, wie der „Haarmensch“Pedro Gonzalez ausgesehen hat.

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