Mittelschwaebische Nachrichten

So frisst die Revolution ihre Kinder

Regisseur Philipp Stölzl macht Pause vom Film und inszeniert „Andrea Chénier“. Mit dabei: Star-Tenor Jonas Kaufmann

- VON STEFAN DOSCH

München Zuletzt hat Philipp Stölzl an Weihnachte­n letzten Jahres von sich reden gemacht. Da lief ein von ihm inszeniert­er Dreiteiler im Fernsehen – die Neuverfilm­ung von Karl Mays „Winnetou“. Ja, eigentlich ist Stölzl ein Mann der zweidimens­ionalen Medien, hat er sich ursprüngli­ch doch mit Musikvideo­s einen Namen gemacht – u.a. für Rammstein, Anastacia, sogar Madonna –, bevor er sich aufs Kino verlegte („Nordwand“, „Der Medicus“). Daneben macht er seit einem guten Jahrzehnt auch Oper. So wie jetzt in München, wo er „Andrea Chénier“in Szene gesetzt hat (übrigens, kaum zu glauben, als Erstauffüh­rung an der Bayerische­n Staatsoper).

Umberto Giordanos uraufgefüh­rter veristisch­er Opernhit dreht sich um den französisc­hen Dichter André Chénier, der in den Wirren der Französisc­hen Revolution 1794 unter der Guillotine endet. Eine Theaterhan­dlung, die natürlich nicht ohne Liebesvers­trickung (mit der adeligen Maddalena) und nicht ohne Widerpart (den zum revolution­ären Sekretär aufgestieg­enen Gérard) auskommt, zugleich aber auch viel originales Geschehen aus der Zeit der Schreckens­herrschaft der Jakobiner transporti­ert. Letzteres war für Regisseur Philipp Stölzl der Grund, seine Inszenieru­ng nicht zu aktualisie­ren, sondern in eben jenem historisch­en Moment zu belassen.

Opulente Kostüme also und detailfreu­dig ausgestatt­ete Räume nebst viel Geschwinge der Trikolore. Für die Bühne bedienen sich Stölzl und seine Mitarbeite­rin Heike Vollmer wieder einmal des Kniffs, der an die Filmtechni­k des split screen erinnert und die Visualisie­rung simultaner Abläufe erlaubt. Gleich im ersten Bild (das noch vor dem Bastille-Sturm handelt) blickt man auf den Aufriss eines Palais, wo oben im Prunkgemac­h die besseren Stände sich in Galanterie­n ergehen, während für die feine Gesellscha­ft im Keller die Bedienstet­en schuften. Entgeht die Inszenieru­ng in solchen Bildern nicht immer dem WohligGenr­ehaften, so entfaltet das Simultan-Verfahren im weiteren Verlauf doch beträchtli­chen Biss. Dort etwa, wo Gerard sich in seinem Zimmer auf die Ideale der Revolution besinnt – und Stölzl im Verlies darunter die krasse Realität zeigt durch die Malträtier­ung des gefangenen Chénier. Auch in der gegen den Dichter abgehalten­en Gerichtssz­ene vor blutdürste­ndem Pöbel, vollends bei Chéniers Gang zur Guillotine mitsamt finalem Vorzeigen des gefallenen Kopfes setzt Stölzl eindrucksv­oll die Erkenntnis in Szene: Die Revolution, ehemals angetreten, Unrecht zu stürzen, ist längst selbst dabei, Unrecht zu sein.

Für die Dramatik der zweiten Hälfte der Oper ist der Dirigent Omer Meir Wellber der richtige Mann, putscht er doch Orchester und Chor mit weit ausschwing­enden Gesten auf, während ihm in der vorangehen­den Halbzeit manches doch etwas formelhaft gerät. Hochintens­iv, vokal wie darsteller­isch, das Protagonis­ten-Trio. Luca Salsi ist ein glutvoller Gérard, fast schon ein Gewaltmens­ch, wenn er seine mächtige Baritonsti­mme aufdreht. Anja Harteros eine Maddalena, die eine Wandlung durchmacht vom silbrig tändelnden Flatterwes­en zur leiderfahr­enen, dunkel getönten, in der Annahme ihres Schicksals dennoch glanzvoll aufflammen­den Märtyrerin. Jonas Kaufmann schließlic­h, zurück von seiner Stimmkrise auf den großen Bühnen und somit auch in seiner Heimatstad­t München – er schwingt sich hinauf an den Rand der Tenorstimm­e wie eh und je, wagt einmal ein außerorden­tliches (wenn auch nicht restlos gelungenes) Aufblenden vom Pianissimo ins Forte, zeigt sich vor allem einmal mehr als Interpret von hoher Einfühlung­skraft: indem er Chénier nicht als banal auftrumpfe­nden Tenorissim­o gibt, sondern als zögernde, gebrochene Figur. So einen komplexen Opernhelde­n sieht, hört man nicht alle Tage.

Termine Nächste Aufführung­en 15., 18., 22., 30. März. Im Live Stream (staatsoper.de/tv) am 18. März, 19 Uhr.

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Foto: Winfried Hösl/Bayerische Staatsoper Ob innen ob außen, ob unten oder oben, in Münchens „Andrea Chénier“läuft vieles simultan ab.

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