Mittelschwaebische Nachrichten
Veganer, Rechte, Fitnessfans
Warum immer mehr Menschen radikal denken
Moment – stehen in der Überschrift Rechte mit Veganern und Fitnessfans auf einer Stufe? Ja, und man kann hinzufügen: Abtreibungsgegner und Tierschützer und religiöse Menschen. Denn es geht hier nicht etwa um Inhaltliches, das sie alle verbände. Sondern um Formales, um eine Logik, die sie gemeinsam haben können. Es geht um Bereiche, in denen sich immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft radikalisieren, sodass man inzwischen immer mehr von einer „radikalisierten Gesellschaft“sprechen kann.
Sagt Ernst-Dieter Lantermann. Der ist seit Jahrzehnten einer der renommiertesten deutschen Persönlichkeitsund Sozialpsychologen, Spezialgebiet: die Bewältigung von Unsicherheiten. Genau darum geht es in der Aufzählung – zumindest in der gesteigerten Form, die der 71-Jährige zunehmend in Deutschland beobachtet. Er beschreibt das als Reaktion auf „eine permanente und umfassende Verunsicherung aller Lebensverhältnisse“, die viele Menschen spürten. Vom Wandel der Arbeitswelt und in Beziehungen bis hin zu einem bedrohlichen Zustand von Natur, Land und Welt –
Die Botschaft lautet: Achtung, Deutschland!
diesen Weg zur Bewältigung des Wankens von Selbst und Welt „schlagen meiner Einschätzung zufolge immer mehr Menschen ein: eine Radikalisierung ihrer Wahrnehmungen, Haltungen und Verhaltensweisen bis hin zum Fanatismus.“
Lantermann sieht folgende gemeinsame Logik: Die Welt wird immer komplexer, ist zunehmend weniger in wichtig und unwichtig, richtig und falsch zu ordnen. Der dauerhaft überforderte Mensch strebt nach „Reduktion der Komplexität“und stützt sich auf einen eingegrenzten Bereich, in dem er Orientierung findet, also selbst bestimmen kann, was richtig ist – und dadurch wiederum auch, wer Freund und wer Feind ist. In der Beschränkung liegt die Klarheit, damit aber auch das viel größere Gewicht auf einem kleinen Gebiet.
Das führt innen und außen zur Radikalisierung: Die Überzeugungen müssen felsenfest sein, um tragfähig zu wirken – und ihre Wahrheit gilt es in der entschiedenen Auseinandersetzung mit Gegnern zu beweisen, im Gegenzug eng zusammenstehend im Kreis der Freunde. So kann der Veganer, Rechte und Fitnessfreak, der Abtreibungsgegner, Tierschützer und Religiöse vom Menschen mit Überzeugungen zu einem Radikalen mit Absolutheitsanspruch werden, der Andersdenkende aggressiv angeht. In der Begrenzung des Richtigen und Wichtigen – der Fanatiker kennt nur noch ein Thema – geht die psychologische Gleichung wieder auf: Selbstwirksamkeitsüberzeugung + soziale Identität = positives Selbstwertgefühl.
Wenn solche Tendenzen zunehmen, spiegelt das den unordentlichen Zustand der Welt. Zugleich ist das eine Gefahr für die Gesellschaft. Die gründet schließlich darauf, dass möglichst alle ihre Mitglieder jenseits der einzelnen Überzeugungen auf einer gemeinsamen Basis stehen: Demokratie. Je mehr Radikale es gibt, die sich in ihrer absoluten Gewissheit dem enthoben fühlen, desto mehr schwindet die Basis. Damit ist jeder Fanatismus, unabhängig vom Inhalt, ein politischer – durch die Logik. Die Botschaft Lantermanns lautet: Achtung, Deutschland!
Ernst Dieter Lantermann: Die radikalisierte Gesellschaft. Karl Blessing Verlag, 224 S., 19,99 ¤