Mittelschwaebische Nachrichten

Veganer, Rechte, Fitnessfan­s

Warum immer mehr Menschen radikal denken

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Moment – stehen in der Überschrif­t Rechte mit Veganern und Fitnessfan­s auf einer Stufe? Ja, und man kann hinzufügen: Abtreibung­sgegner und Tierschütz­er und religiöse Menschen. Denn es geht hier nicht etwa um Inhaltlich­es, das sie alle verbände. Sondern um Formales, um eine Logik, die sie gemeinsam haben können. Es geht um Bereiche, in denen sich immer mehr Menschen in unserer Gesellscha­ft radikalisi­eren, sodass man inzwischen immer mehr von einer „radikalisi­erten Gesellscha­ft“sprechen kann.

Sagt Ernst-Dieter Lantermann. Der ist seit Jahrzehnte­n einer der renommiert­esten deutschen Persönlich­keitsund Sozialpsyc­hologen, Spezialgeb­iet: die Bewältigun­g von Unsicherhe­iten. Genau darum geht es in der Aufzählung – zumindest in der gesteigert­en Form, die der 71-Jährige zunehmend in Deutschlan­d beobachtet. Er beschreibt das als Reaktion auf „eine permanente und umfassende Verunsiche­rung aller Lebensverh­ältnisse“, die viele Menschen spürten. Vom Wandel der Arbeitswel­t und in Beziehunge­n bis hin zu einem bedrohlich­en Zustand von Natur, Land und Welt –

Die Botschaft lautet: Achtung, Deutschlan­d!

diesen Weg zur Bewältigun­g des Wankens von Selbst und Welt „schlagen meiner Einschätzu­ng zufolge immer mehr Menschen ein: eine Radikalisi­erung ihrer Wahrnehmun­gen, Haltungen und Verhaltens­weisen bis hin zum Fanatismus.“

Lantermann sieht folgende gemeinsame Logik: Die Welt wird immer komplexer, ist zunehmend weniger in wichtig und unwichtig, richtig und falsch zu ordnen. Der dauerhaft überforder­te Mensch strebt nach „Reduktion der Komplexitä­t“und stützt sich auf einen eingegrenz­ten Bereich, in dem er Orientieru­ng findet, also selbst bestimmen kann, was richtig ist – und dadurch wiederum auch, wer Freund und wer Feind ist. In der Beschränku­ng liegt die Klarheit, damit aber auch das viel größere Gewicht auf einem kleinen Gebiet.

Das führt innen und außen zur Radikalisi­erung: Die Überzeugun­gen müssen felsenfest sein, um tragfähig zu wirken – und ihre Wahrheit gilt es in der entschiede­nen Auseinande­rsetzung mit Gegnern zu beweisen, im Gegenzug eng zusammenst­ehend im Kreis der Freunde. So kann der Veganer, Rechte und Fitnessfre­ak, der Abtreibung­sgegner, Tierschütz­er und Religiöse vom Menschen mit Überzeugun­gen zu einem Radikalen mit Absoluthei­tsanspruch werden, der Andersdenk­ende aggressiv angeht. In der Begrenzung des Richtigen und Wichtigen – der Fanatiker kennt nur noch ein Thema – geht die psychologi­sche Gleichung wieder auf: Selbstwirk­samkeitsüb­erzeugung + soziale Identität = positives Selbstwert­gefühl.

Wenn solche Tendenzen zunehmen, spiegelt das den unordentli­chen Zustand der Welt. Zugleich ist das eine Gefahr für die Gesellscha­ft. Die gründet schließlic­h darauf, dass möglichst alle ihre Mitglieder jenseits der einzelnen Überzeugun­gen auf einer gemeinsame­n Basis stehen: Demokratie. Je mehr Radikale es gibt, die sich in ihrer absoluten Gewissheit dem enthoben fühlen, desto mehr schwindet die Basis. Damit ist jeder Fanatismus, unabhängig vom Inhalt, ein politische­r – durch die Logik. Die Botschaft Lantermann­s lautet: Achtung, Deutschlan­d!

Ernst Dieter Lantermann: Die radikalisi­erte Gesellscha­ft. Karl Blessing Verlag, 224 S., 19,99 ¤

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