Mittelschwaebische Nachrichten
Voll das Opfer
Eine junge Türkin erhebt die Stimme: Dieses Debüt geht unter die Haut
„Weil der Typ uns das Leben versaut hat, uns allen dreien“
Hazal würde sagen: Es läuft beschissen. Ja, beschissen. Halten Sie solche Worte nicht aus, liebe Leserin, lieber Leser, dann sollten Sie die Finger von Fatma Aydemirs Debutroman „Ellbogen“lassen. Darin wimmelt es von Kraftausdrücken und Fäkalsprache. Leider würden Sie dann aber auch eine spannende Geschichte mit interessanter Milieustudie verpassen, wie man sie sonst nicht oft zu lesen bekommt. „Ein Wahnsinn von einem Roman“, meint Schriftsteller Feridun Zaimoglu. Da ist was dran.
In „Ellbogen“dreht sich alles um die 17-jährige Hazal, die im Berliner Arbeiterbezirk Wedding aufgewachsen ist, keinen Ausbildungsplatz hat, sinnlos Bewerbungen schreibt und frustriert ist. Die junge Frau lebt in zwei Welten und weiß nicht, wo sie hingehört. Daheim die konservative türkische Familie mit Präsident-Erdogan-Kult und patriarchalen Strukturen, bei denen Frauen sich den Männern unterordnen müssen und wie Dienerinnen behandelt werden. Außerhalb der Wohnung versucht die brave Tochter Hazal eine normale junge Berlinerin zu sein und schlägt dabei regelmäßig über die Stränge. Sie trifft sich mit ihren Freundinnen Gül und Elma, sie trinkt Alkohol, kifft, klaut einen Lippenstift und pöbelt aus Frust und Wut Leute an. Abends skypt sie mit ihrer Facebook-Bekanntschaft Mehmet in Istanbul, für den sie schwärmt, obwohl sie ihn noch nie getroffen hat.
Auch wenn es nicht gut läuft, ist Hazal selbstbewusst und jammert nicht. Bloß kein Opfer sein, denkt sie immer wieder, obwohl sie und ihre Freundinnen dauernd Ellbogen zu spüren bekommen, „von denen, die stärker sind“. Auch das Desinteresse der deutschen Mitmenschen und Behörden und die Ungleichbehandlung machen sie wütend. „Sie sehen uns nur, wenn wir Scheiße bauen, dann sind sie plötzlich neugierig.“Und mächtige, pardon, Scheiße, baut Hazal ausgerechnet an ihrem 18. Geburtstag, an dem ihr Leben vollkommen auf die schiefe Bahn gerät.
Die drei Freundinnen wollen feiern, betrinken sich und werden vom Türsteher an der Disco abgewiesen. Ihre Wut und ihr Frust kochen so sehr hoch, dass beim Warten auf die U-Bahn die Situation eskaliert. Die drei jungen Frauen legen sich plötzlich mit einem Studenten an, treten und schlagen auf ihn ein – und Hazal schubst ihn wie im Rausch auf die U-Bahn-Gleise. Der Mann stirbt. Ihre Freundinnen kommen bald in Untersuchungshaft, Hazal flüchtet zu Mehmet nach Istanbul. Schnell ist sie ernüchtert von ihrer Traumstadt, in der „nichts okay ist“, von Traummann Mehmet, der sich als Junkie entpuppt und von der vermeintlichen Freiheit, die eigentlich ein großes Gefängnis ist. Hazal ist allein. Sie fühlt sich nicht als Täterin, sondern ihr Kopf „brummt vom Opfersein“. Als ihre studierte Lieblingstante sie besucht und Hazal überreden will, sich der Polizei zu stellen, bricht es aus der jungen Frau heraus. Sie bereue nichts. „Wenn ich die Sache wieder erleben würde, würde ich es vielleicht nicht wiederholen. Weil der Typ uns das Leben versaut hat, uns allen dreien. Aber nur deswegen!“Schluck! Harte Worte über den Mann, den Hazal vor die U-Bahn gestoßen hat. Das Opfer wird zum Täter gemacht.
Fatma Aydemir traut sich was! Sie schreibt ihrer Ich-Erzählerin Hazal kein Blatt vor den Mund. Und genau das macht „Ellbogen“so stark. Das Buch trifft den Leser mit voller Wucht und geht unter die Haut – so ähnlich wie einst Fatih Akins Kinofilm „Gegen die Wand“, der ebenfalls gnadenlos die Geschichte einer jungen Deutsch-Türkin erzählt, die aus dem Familiengefängnis auszubrechen versucht. Der mehrfach ausgezeichnete Film wurde heftig diskutiert – auch im Roman ist er Thema. Hazals konservative Mutter schimpft auf „Gegen die Wand“, Hazal hingegen identifiziert sich damit und schaut den Film heimlich vor dem Schlafengehen. „Irgendwas hat ,Gegen die Wand‘ mit mir gemacht, irgendwas ist jetzt für immer anders.“
Fatma Aydemir legt nun mit „Ellbogen“den Finger in die Wunde, schreibt über die Ungleichbehandlung und Perspektivlosigkeit mancher Migranten, über starre Familienstrukturen und sie gibt jungen Deutsch-Türkinnen der Unterschicht eine Stimme. Dazu webt die 1986 in Karlsruhe geborene Autorin und tageszeitung-Redakteurin aktuelle politische Ereignisse ein: den Putschversuch gegen Präsident Erdogan, die Kurdenverfolgung, Bombenanschläge.
Den Tod des Studenten hätte es eigentlich nicht gebraucht, das Buch wäre auch ohne die Straftat als Milieustudie spannend. Der Student steht für den typischen Deutschen und für die Ungleichheit in der Gesellschaft. Hazal schimpft: „Weil solche Typen herumrennen und meinen, die Welt gehört ihnen. Weil die sich aufführen, wie sie wollen, weil die nie um irgendetwas kämpfen mussten. Und weil wir mit hängenden Schultern wie so Opfer herumlaufen, obwohl wir wahrscheinlich zehn mal mehr wissen über das Scheißleben als diese Kartoffeln. Und vielleicht, wenn wir Glück haben, dürfen wir mal bei denen putzen, in ihren dicken Häusern. Was ist das alles für eine Scheiße?“
„Ellbogen“ist schnell, hart, unbarmherzig und transportiert dies auch über eine harte, derbe Sprache. Fatma Aydemir trifft damit den richtigen Ton. Die Ich-Erzählerin wirkt authentisch, ihre Gedanken und Schilderungen nicht gewollt jugendlich. Aber hören wir auf mit diesen Kartoffelsätzen. Hazal würde vielleicht einfach kurz und knapp sagen: krass gut. Lea Thies Fatma Aydemir